Rita Aldenhoff-Hübinger / Edith Hanke (Hgg.): Max Weber. Reisebriefe 1877-1914. Mit einem Einleitungsessay von Hinnerk Bruhns (= Max Weber. Ausgewählte Briefe; 1), Tübingen: Mohr Siebeck 2019, XIX + 241 S., ISBN 978-3-16-156491-8, EUR 29,00
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Rita Aldenhoff-Hübinger / Edith Hanke (Hgg.): Max Weber. Gelehrtenbriefe 1878-1920. Mit einem Einleitungsessay von Gangolf Hübinger (= Max Weber. Ausgewählte Briefe; 2), Tübingen: Mohr Siebeck 2020, XXVII + 267 S., ISBN 978-3-16-157516-7, EUR 29,00
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Es war sicher keine schlechte Idee des Verlags und der Herausgeberinnen, aus dem gewaltigen Corpus der in der II. Abteilung der Max Weber-Gesamtausgabe in elf Bänden niedergelegten Korrespondenz des in Freiburg, Heidelberg und München lehrenden Soziologen und Kultur- und Sozialhistorikers (1864-1920) für ein breiteres Publikum eine repräsentative Auswahl vorzusehen. Das Briefeschreiben war Weber schon im Heranwachsendenalter als eine bürgerliche Kulturpraxis sui generis in Fleisch und Blut übergegangen und er sollte es darin zu einer wahren Meisterschaft bringen.
Das erste Bändchen, eingeleitet durch einen ebenso kenntnisreichen wie glänzend geschriebenen Essay von Hinnerk Bruhns, gibt einen Einblick in seine Reisebriefe, die er schon als Pennäler als "federführender Berichterstatter" von den Wanderungen mit dem Vater und den Brüdern bzw. allein durch die Harzregion, Sachsen, Schlesien und Böhmen an die Mutter schrieb. Die Briefe von seiner Hochzeitsreise nach (London und) Paris schließen sich an, die zu einem Zeitpunkt stattfand, als er seinem ersten Ruf auf das Freiburger Ordinariat entgegensah, dann die meist an die Mutter gerichteten Berichte von den monatelangen Studienfahrten nach Schottland und Irland 1895 und ins südwestliche Frankreich und nach Spanien 1897 und von der "Kongressreise" in die USA 1904, Unternehmungen, denen dann noch Bibliotheks- und Studienreisen in die Niederlande und nach Belgien und mehrere ebenfalls ausgedehnte Erholungsreisen nach Südfrankreich und Italien folgen sollten. Weber, in Heidelberg faktisch wegen einer psychosomatischen Krankheit beurlaubt und in den Stand des (wirtschaftlich aufgrund des Vermögens seiner Mutter und seiner Frau Marianne abgesicherten) Privatgelehrten getreten, unternahm diese seiner Gesundheit dienenden Erholungsreisen meist dann ohne seine Ehefrau.
Weber war ein höchst aufmerksamer und kritischer, an vielen Aspekten des Sozial- und Wirtschaftslebens seiner Reiseziele interessierter Briefschreiber, der - schon als Schüler - die Gabe hatte, mit Witz, Ironie, gelegentlich auch mit Sarkasmus zu formulieren, was die Lektüre zahlreicher seiner Briefe zu einem wahren Lesevergnügen macht. Ihn, den Protestanten und den Verfasser der "Protestantischen Ethik", faszinieren die Konfessionsverhältnisse, die Kirchen und die Gläubigkeit der Menschen, ihn beschäftigen die sozialen Strukturen und die Spannungen zwischen Arm und Reich und zwischen Mehrheiten und ethnischen Minderheiten, er, selbst dem Stand der "Kapitalisten" zugehörig, verweist auf die Auswüchse des "Kapitals" und vergleicht generell immer wieder die sozioökonomischen Verhältnisse mit denen in seiner Heimat. Er sucht nach den Ausdrucksformen der materiellen Kultur, Essen und Trinken neben den Museen eingeschlossen, er widmet sich den Universitäten (insbesondere den amerikanischen) und dem Sozialprestige der dortigen Professoren, aber er beschreibt auch die landschaftlichen Reize der bereisten Gegenden und die körperlichen Mühen des Reisens zu Fuß, auf dem Pferd, auf dem Wasser oder auch mit der Bahn. In den USA, deren Osten, mittleren Westen und Süden er und seine Frau - die "letzte große Entdeckungsreise" (XV) - fast drei Monate bereisten und deren gesellschaftliche Strukturen durchaus ambivalent gesehen wurden, traf er auf zahlreiche Auswanderer aus seinem engeren familiären Umfeld, die dort keineswegs ausnahmslos ihr Glück machen konnten. Auch seinen in den Niederlanden lebenden entfernten Verwandten stand er eher mit Distanz gegenüber.
Während in den "Reisebriefen" dem Leser ein neugieriger - das schloss auch zwei Besuche des Spielcasinos in Monte Carlo ein! -, lernwilliger, gelegentlich aber auch karikierender Weber gegenübertritt, dessen Reisen auf beigegebenen Routenkarten und einigen Fotos seiner Hotels nachvollzogen werden können, ist es in den Gelehrtenbriefen der vielfach vernetzte Intellektuelle, der sich seiner Stellung in der Wissenschaftslandschaft und seines Prestiges voll bewusst ist - "von Beruf: Gelehrter", wie er das in einem (wichtigen) Brief im Jahr 1920 einmal formulierte. Seine intellektuelle Brillanz machte ihn, wie es formuliert wird (XI), schlicht zu einer Größe im Heidelberger Gelehrtenmilieu - einer Größe freilich, die neben dem vielzitierten Postulat der "Wissenschaft als Beruf" auch für die sinnlichen Seiten des Gelehrtenlebens offen war und für die Selbstverständlichkeit, sich politisch zu artikulieren und zu engagieren. Auch hier steht ein Einführungsessay des um die Gesamtausgabe hoch verdienten Viadrina-Historikers Gangolf Hübinger voran, der Anspruch, Selbst- und Weltbild und die "andere Seite" des Intellektuellen eindrucksvoll nachzeichnet.
Dieser Band ist freilich weniger geschlossen als der erste, denn unter dem Begriff "Gelehrtenbriefe" befinden sich auch lange Abschnitte ("Lebensführung"), die mehr oder weniger Familienangelegenheiten betreffen, angefangen mit einem Brief des 14-jährigen an seine Großmutter, in dem er berichtet, welche Bücher (Shakespeare-Ausgabe, Curtius' "Geschichte der Griechen", eine Cicero-Monografie) er zu Weihnachten geschenkt erhielt und mit welch' anspruchsvoller Lektüre er sich derzeit beschäftige, über seine Erfahrungen im Einjährig-Freiwilligen Militärdienst und Mahnungen an Bruder Alfred über seine christliche Lebensführung bis hin zu Ergüssen über den Bruch mit seinem Vater und Nachrichten an seine Geliebte Else Jaffé. Aber hier finden sich dann auch schon Briefe über die Aufnahme von Manuskripten ins "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" und wissenschaftliche Diskurse - und selbst wenn Weber "nur" ein Kondolenzschreiben verfasste, dann begnügte er sich nie mit Floskeln, sondern unterfütterte seine Anteilnahme mit wissenschaftstheoretischen oder zeithistorischen Überlegungen. Und überhaupt: Die einfühlsame Teilnahme an menschlichen Schicksalen konnte sich bei ihm auch schnell umwandeln in Streitlust und Rechthaberei.
Streitlust und Rechthaberei bestimmen dann auch seine Ausflüge in die Politik, für ihn ja immer Ausfluss seiner Grundüberzeugung, dass der Gelehrte auch politisch Stellung beziehen müsse. Hier geht es unter anderem um Reaktionen auf ein sozialdemokratisches Agrarprogramm, um Friedrich Naumanns "Nationalsozialen Verein", um die (sich bei ihm schnell ändernde) Bewertung des Krieges, über seine Haltung zum "verschärften" U-Boot-Krieg (Denkschrift von 1916), um seine Vorstellungen von "Deutschlands künftiger Staatsform", seine Mitgliedschaft in der DDP und seine (freilich eher verhaltenen) Bemühungen um einen Reichstagssitz. Der "Gelehrte" schließlich tritt dem Leser entgegen in dem Abschnitt "Wissenschaft", beginnend mit seinem Habilitationsgesuch an die Berliner Juristische Fakultät und endend mit seinen Bedingungen für die Übernahme eines Lehrstuhls in München und einem heftigen Streit über seine nur knapp zustande gekommene Wahl in die Bayerische Akademie der Wissenschaften, die er, da sie "politisiert" worden sei, zunächst ablehnen wollte. Man verfolgt die verschiedenen Publikationspläne Webers, begegnet immer wieder dem Mitherausgeber - neben Werner Sombart, seinem ihm freundschaftlich verbundenen "Intimfeind" - des "Archivs", man sieht ihn im In- und Ausland um Beiträge werben, oft schon zu präzise vorgegebenen Sujets, und wie er eingegangene Manuskripte kritisch kommentiert, bis hin zu seinem Veto. Weber bemüht sich um das wissenschaftliche Vorankommen von Kollegen, engagiert sich in Verbandsangelegenheiten (Deutsche Gesellschaft für Soziologie), berät den Verleger bei angebotenen Buchmanuskripten, diskutiert mit anderen Autoren über Aspekte der Protestantischen Ethik und des Puritanismus und dankt für Sonderdrucke, nicht ohne sie inhaltlich nach vielen Seiten hin zu diskutieren - sein Dank war immer grundsätzlich, nie floskelhaft oder oberflächlich.
Die beiden Bändchen bringen einem größeren Publikum einen der großen Anreger des frühen 20. Jahrhunderts, einen herausragenden, auf vielen Feldern beschlagenen Intellektuellen nahe, einen Mann, der aber auch gemeinhin weniger bekannte Facetten hatte: der früh erkrankte, familiäre Probleme hatte, politisch nicht immer glücklich agierte, dessen harte und schonungslose Kritik auch verletzen konnte. Aber er war zugleich ein Mann, der die Kunst des Briefeschreibens wie kaum ein anderer beherrschte und auskostete. Das ist wahrlich selten geworden.
Heinz Duchhardt