Rezension über:

Francesca Longo Auricchio / Giovanni Indelli / Giuliana Leone et al.: La Villa dei Papiri. Una residenza antica e la sua biblioteca, Roma: Carocci editore 2020, 261 S., 58 Farb-, 37 s/w-Abb., ISBN 978-88-430-9894-1, EUR 28,00
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Rezension von:
Kilian Fleischer
Institut für Klassische Philologie, Julius-Maximilians-Universität, Würzburg
Redaktionelle Betreuung:
Matthias Haake
Empfohlene Zitierweise:
Kilian Fleischer: Rezension von: Francesca Longo Auricchio / Giovanni Indelli / Giuliana Leone et al.: La Villa dei Papiri. Una residenza antica e la sua biblioteca, Roma: Carocci editore 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 3 [15.03.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/03/35254.html


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Francesca Longo Auricchio / Giovanni Indelli / Giuliana Leone et al.: La Villa dei Papiri

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Die vier Autoren geben mit diesem Buch eine gelungene Einführung in die Herkulanische Papyrologie und die Bibliothek der Villa dei papiri. Die Monografie ist nicht nur für interessierte Studenten oder Akademiker, sondern auch für (Herkulanische) Papyrologen und Altertumswissenschaftler ergiebig, insofern sie in kompakter Form über die Geschichte der Herkulanischen Papyri sowie die wesentlichen Neuentwicklungen hinsichtlich Villa und Papyri informiert. Das Buch ist übersichtlich in sieben Kapitel gegliedert und glänzt durch gute Lesbarkeit bei gleichzeitiger wissenschaftlicher Tiefe. Auch die beinahe hundert Illustrationen, viele in Farbe, zu archäologischen Funden und Papyri sind sehr willkommen. Das Werk ist gleichsam eine auf den aktuellsten Forschungsstand gebrachte Synthese bzw. Weiterentwicklung von früheren "Gesamtdarstellungen" wie etwa Capasso (1991), Erler (1994), Sider (2005), Zarmakoupi (2010), Del Mastro (2014), Blank (2019 - Stanford Enzyklopädie/online). Auch werden die jüngsten Fortschritte beim Lesen und Aufrollen der Papyri (Multispektralbilder und virtual unrolling) berücksichtigt. Jeder der vier Autoren hat verschiedene Sektionen des Buches bearbeitet.

Zunächst gibt Longo Auricchio in Kapitel 1 "Scoperta e riscoperta della Villa dei Papiri" (15-52) einen Überblick zur Entdeckungsgeschichte der Villa, wobei sie den geschichtlichen Hintergrund sowie archäologische und kulturgeschichtliche Aspekte der herkulanischen Funde aufzeigt. Die Villa wurde im Zuge der Bourbonischen Ausgrabungen (1750-1754) unterirdisch mit Tunneln erschlossen und liegt noch heute weitestgehend unter erstarrter Asche begraben. Der Ingenieur Karl Weber entwarf damals einen Plan der Villa mit Verzeichnung der Funde, welcher als Urdokument der Archäologie gelten kann. Zentral ist zu vermerken, dass bei erneuten Grabungen (seit den 1980er Jahren) drei weitere Etagen der Villa zum Vorschein kamen. Ihre Ausmaße waren folglich noch viel beeindruckender als bisher vermutet.

Im zweiten, von Longo Auricchio und Del Mastro gemeinsam bearbeiteten Kapitel "Il ritrovamento dei papiri e i metodi di svolgimento" (53-68) werden die Entdeckung der Papyrusrollen sowie die Geschichte ihres Aufrollens nachgezeichnet. Nach ersten unbeholfenen Schnittversuchen (scorzatura totale) wurde von Antonio Piaggio ein ausgefeilter Mechanismus (macchina di Piaggio) zum Entrollen entwickelt. Diverse chemische Versuche im 19. und 20. Jahrhundert waren relativ erfolglos. Im Moment versucht man die zahlreichen noch ungeöffneten Rollen der Sammlung virtuell, also nicht-invasiv, zu entrollen (virtual unrolling) - die große Hoffnung der Herkulanischen Papyrologie und der Klassischen Philologie insgesamt!

Im 3. Kapitel "I papiri ercolanesi nella storia e nella cultura europea dal XVIII al XX secolo" (69-112) geht Leone auf die kulturgeschichtliche Bedeutung der Papyri ein. Neben Winckelmanns Eindrücken thematisiert sie die Publikation der Papyri (Disegni, collectio prior, collectio altera, collectio tertia), die Entwicklung und Lokalisation der Arbeitsstätte (Officina dei papiri) und die Tätigkeiten "herkulanischer" Protagonisten über die Jahrhunderte (Accademia Ercolanese, Piaggio, Hayter, Comparetti, Bassi und Gigante - Gründung des CISPE).

Das 4. Kapitel "Aspetti formali e paleografici dei papiri ercolanesi" (113-136) ist den formalen und paläografischen Eigenheiten der Herkulanischen Papyri gewidmet. Es finden sich etwa Einlassungen zur Länge der Rollen, Höhe der Kolumnen, paratextuellen Zeichen (bspw. paragraphoi oder stichometrische Zeichen), Titelangaben, Entwurfsversionen, Reparaturen (von glutinatores) und verschiedenen Schreiber der Texte. Del Mastro gibt in dem Kapitel primär eine aktualisierte Zusammenfassung von eigenen Arbeiten und den paläografischen Studien Cavallos (1982).

Im 5. Kapitel "La biblioteca della Villa dei Papiri" (137-180) stellt Indelli den Inhalt der Bibliothek der Villa bzw. der Papyri vor. Bekanntermaßen bilden epikureische Werke, allen voran die Philodems von Gadara (ca. 110-40 v. Chr.), den Kern der (bisher entdeckten) Bibliothek, aber auch mehrere stoische Schriften und einige lateinische Werke finden sich unter den Papyri. Epikurs De natura war wohl in toto (37 Bücher) in den Regalen der Bibliothek, wobei einige Bücher in mehreren Kopien (für philologische Vergleiche?) vorhanden waren. Auch Werke der drei ϰαθηγεμόνες Metrodor, Polyainos und Hermarch fehlen nicht. Einige Papyri mit Werken Metrodors und Epikurs datieren auf das 3. Jh. v. Chr. Neben den recht obskuren Epikureern Kolotes (am ehesten noch durch Plutarchs Invektive bekannt), Polystratos und Karneiskos ist die starke Präsenz von Schriften des Demetrius Laco, etwas älter als Philodem, bemerkenswert. Auch ein Werk von Philodems Lehrer Zenon von Sidon wurde identifiziert. Sehr viele Papyri sind Philodem selbst zuzuweisen. Er verfasste philosophiegeschichtliche, ethische, theologische und auch erkenntnistheoretische Schriften. Exemplarisch zu nennen sind etwa De bono rege, syntaxis philosophorum, Rhetorica, Poetica, De musica, De vitiis, De ira, De morte, De libertate dicendi, De signis, De dis und De pietate. Einige Werke umfassen 10 Bücher (Rollen), andere nur eines; von einigen Werken (Rollen) sind etliche Kolumnen erhalten, von andern nur wenige Fetzen. Indelli skizziert den Inhalt dieser Werke gemäß dem neuesten Forschungsstand und geht auch auf die lateinischen Papyri ein. Unter ihnen sind das Carmen de bello Actiaco und neuerdings auch ein Werk von Seneca dem Älteren hervorzuheben. Lukrezens Lehrgedicht war offenbar nicht in der Bibliothek. Insgesamt sind die lateinischen Papyri wesentlich schlechter als die griechischen erhalten und auch viel geringer an Zahl.

Im 6. Kapitel "Il proprietario della Villa dei Papiri" (181-192) rekapituliert Indelli Hypothesen zum Eigentümer der Villa. Trotz diverser Alternativvorschläge tendiert die Forschung dazu in Philodems Patron Lucius Calpurnius Piso Caesoninus den wahrscheinlichsten Besitzer zu sehen, derweil ein letztgültiger Beweis noch nicht erbracht ist. Die Problematik ist versiert dargestellt und das Kapitel klar strukturiert, angelehnt an Capasso (in Zarmakoupi 2010).

Im 7. Kapitel "Come si affronta oggi lo studio dei testi ercolanesi: nuove prospettive" (193-210) von Leone/Del Mastro wird zunächst die Relevanz der mühsamen Archivarbeit in den Unterlagen der Officina dei papiri für die Rekonstruktion der Papyri aufgezeigt. Ferner erlauben neue bibliometrische Verfahren die (exakte) Rekonstruktion von Rollen und die Rückplatzierung von Fragmenten oder falschen Lagen. Die Anfang der 2000er gemachten Multispektralbilder (MSI) finden schließlich Erwähnung, wobei man ihre Bedeutung noch etwas stärker hätte herausstellen können (die neuesten Hyperspektralbilder - HSI - konnten im Buch noch nicht berücksichtigt werden). Auch RTI (Reflectance Transformation Imaging) mag beim Unterscheiden von Lagen in Zukunft hilfreich sein.

Der bereits vorgenommenen positiven Gesamtwürdigung gesellt sich als weitere Kaufempfehlung der in Anbetracht der vielen Bilder recht erschwingliche Preis von 28 Euro bei. Ein kleiner Wermutstropfen ist allenfalls darin zu sehen, dass die italienische Sprache in Verbindung mit einigen Spezialbegriffen gerade im Italienischen weniger bewanderte Studenten oder Gelehrte abschrecken könnte, das Buch zu konsultieren oder vollständig zu lesen. Eine deutsche Einführung in die Herkulanische Papyrologie bleibt ein Desiderat.

Kilian Fleischer