Olga Velikanova: Mass Political Culture Under Stalinism. Popular Discussion of the Soviet Constitution of 1936, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2018, XV + 260 S., E-BOOK, ISBN 978-3-319-78443-4, EUR 85,59
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Andreas Wirsching / Jürgen Zarusky / Alexander Tschubarjan u.a. (Hgg.): Erinnerung an Diktatur und Krieg. Brennpunkte des kulturellen Gedächtnisses zwischen Russland und Deutschland seit 1945, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015
Robert Henderson: Vladimir Burtsev and the Struggle for a Free Russia. A Revolutionary in the Time of Tsarism and Bolshevism, London: Bloomsbury 2017
In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" beklagte Karl Schlögel 2017, dass die Stalinismusforschung die ersten allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen zum Obersten Sowjet im Dezember 1937 weitgehend unbeachtet ließ, obwohl es sich bei ihnen um ein Schlüsselereignis in der sowjetischen Geschichte handelte, in das Millionen von Sowjetbürgern involviert waren. Er erklärt dieses Desiderat damit, dass Wahlen wie andere Mobilisierungskampagnen der Stalin-Ära als bloße Propaganda-Show abgetan würden, die nicht mehr gewesen seien als eine Ablenkung von dem gleichzeitig im Land wütenden Terror. [1]
Olga Velikanova widmet ihre Darstellung einem ähnlich vernachlässigten Thema, das die Voraussetzung für die genannten Wahlen war: Die Stalin-Verfassung aus dem Jahr 1936, die ihr Namensgeber als "demokratischste Verfassung der Welt" bezeichnete. [2] Tatsächlich garantierte die zweite Verfassung der Sowjetunion Staatsbürgern zwar Grundrechte wie Presse- und Versammlungsfreiheit, gleichwohl blieben diese in der Praxis uneingelöst. Ihrer Verabschiedung am 12. Dezember 1936 gingen sechsmonatige unionsweite öffentliche Diskussionen um den Verfassungsentwurf voraus. Am Ende der Kampagne waren über 40.000 schriftliche Kommentare aus der Bevölkerung bei der Verfassungskommission eingegangen, und mehr als 50 Millionen Menschen hatten an Diskussionsveranstaltungen teilgenommen. Im Ergebnis blieb das finale Dokument hinter den im Entwurf enthaltenen Freiheiten zurück.
Statt wie bisher die Stalin-Verfassung aus politischer und juristischer Perspektive zu untersuchen, folgt Velikanova einem kulturhistorischen Ansatz und widmet sich den Reaktionen der Bevölkerung auf den Verfassungsentwurf und die darin postulierten Bürgerrechte. Einerseits reiht sie sich damit in Forschungen zum Demokratieverständnis und zum Potential für demokratische Strukturen im sowjetischen Modernisierungsprojekt ein. Andererseits diskutiert sie Fragen der Massenmobilisierung und Partizipation. Die Autorin geht den Grenzen und Möglichkeiten der Erforschung der öffentlichen Meinung (popular opinion statt public opinion) als Spiegel der politischen Massenkultur der Sowjetunion Stalins nach.
Die vorliegende Monographie gliedert sich in zwei Abschnitte, die von einer Einleitung, einem Quellenkapitel und einer knappen Schlussfolgerung umrahmt werden. Im ersten Teil widmet sich die Autorin der Perspektive von oben und untersucht die parteistaatlichen Strategien für die neue Verfassung und die begleitende Kampagne. Sie zeichnet die Voraussetzungen, den Kontext und die Gründe für die Einführung einer neuen Verfassung, für die Initiierung der begleitenden Mobilisierungskampagne sowie für die Revision der ursprünglich intendierten neuen politischen Rechten nach. Dabei bezieht Velikanova die Umsetzung durch lokale Kader ein und betont die Unzufriedenheit Moskaus mit dem Verlauf. Der zweite Abschnitt legt den Fokus auf die öffentliche Rezeption der Maßnahmen und zeigt eine Meinungsvielfalt auf, die durch eine Kontextualisierung der Lebensumstände erklärt werden.
Die Fallstudie beruht auf einer breitgefächerten Materialgrundlage: Neben klassischen Schriftquellen aus den Führungszirkeln fließen Wortprotokolle von Diskussionsveranstaltungen, Stimmungsberichte (svodki) sowie zusammenfassende Berichte ein, die sowohl aus der Feder des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKVD) als auch aus Partei- oder anderen Regierungsstellen stammen. Als Korrektiv werden Interviews mit sowjetischen Emigranten aus dem Anfang der 1950er Jahre durchgeführten Harvard Project on the Soviet Social System sowie Selbstzeugnisse einbezogen, zu denen Tagebucheinträge und unveröffentlichte Briefe einfacher Sowjetbürger an Zeitungen und Behörden zählen, in denen diese den Verfassungsentwurf kommentierten. Der Vorbehalte gegenüber Quellen zur Stimmungslage, die durch die Intentionen ihrer Verfasser und die Entstehungszusammenhänge stark eingefärbt sind, ist sich Velikanova bewusst. Um die Defizite auszugleichen und die Aussagekraft zu schärfen, plädiert sie neben einem methodenkritischen Umgang für eine möglichst breite Kombination unterschiedlicher Quellengattungen.
Die Monografie verfügt über keine vollständige Bibliografie, sondern fasst zitierte Literatur am Ende jedes Kapitels zusammen. Bedauerlicher ist, dass eine Übersicht der verwendeten Archivbestände fehlt. Eingefügt sind zehn Abbildungen, die allerdings nur illustrativ gebraucht und nicht in ihrer Funktion für die Mobilisierungskampagne untersucht werden, wie dies für die textliche Presseberichterstattung zum Teil geschieht.
Velikanova argumentiert, dass das Partizipationsangebot der politischen Führung zur Diskussion der Verfassung auf fruchtbaren Boden fiel, jedoch unterschiedlich aufgenommen wurde. Sie betont die aktive Beteiligung der jüngeren Generation, die als neue Sowjetmenschen am "Sieg des Sozialismus" mitwirken wollten, und macht andererseits ablehnende Positionen in der Gesellschaft aus, die insbesondere auf das neue Wahlrecht für alle Staatsbürger, auch die Entrechteten (lišency), zurückzuführen waren. Beide Ansichten wurden in den zur Verfügung gestellten Kommunikationsräumen verbalisiert. Statt lediglich von einer inszenierten Partizipation auszugehen, lotet Velikanova die Dimensionen der Meinungsäußerung aus, die sich jenseits von einer plumpen Übernahme staatlicher Propagandalosungen, gespielter Konformität oder absoluter Renitenz bewegen.
Die Verfassung und die begleitende Kampagne sollten mobilisierende, integrative und erzieherische Funktionen erfüllen und dazu dienen, ein Stimmungsbild einzuholen. Die Kampagne kam einem Lackmustest für die politischen und rechtlichen Neuerungen des Verfassungsentwurfs gleich. Velikanova rekonstruiert die Informationsbasis der politischen Führung und bewertet sie als ausschlaggebend für die Revision. Die Reaktionen und Meinungen der Bevölkerung wurden demnach nicht nur erfasst, sondern in politischen Entscheidungen berücksichtigt. Aus den vorliegenden Berichten gewann das Regime entgegen der Erwartung nicht das Bild einer sowjetisierten, sondern einer heterogenen Gesellschaft, sodass die Verfassung in der Folge abgeschwächt und zu dem demokratischen Feigenblatt wurde, als welches sie heute zurecht gilt. Damit widerspricht die Autorin der Forschungsmeinung, nach der die Stalin-Verfassung lediglich der außenpolitischen Positionierung diente und betont stattdessen die Bedeutung der Interaktion zwischen Herrschern und Beherrschten. Mehr noch: Sie folgt der These J. Arch Gettys und Karl Schlögels, wonach die Ergebnisse der Verfassungskampagne dazu beitrugen, den Terror gegen die eigene Bevölkerung in Form der Massenoperationen ab Ende Juli 1937 zu entfesseln. [3] Velikanova selbst bewertet dieses Argument als fehlendes Puzzlestück in der Diskussion um die Motive für den Großen Terror. Sie überschätzt es aber auch nicht angesichts weiterer aktengestützter Erklärungen, welche die außenpolitische Lage, Dynamiken der Massenoperationen und die Rolle des NKVD berücksichtigen.
Olga Velikanovas Verdienst ist es, ein lange ideologisch verbrämtes und marginalisiertes Kapitel des Stalinismus aufgegriffen und schwer interpretierbare Quellen für eine kulturhistorische Deutung nutzbar gemacht zu haben. Sie zeigt, dass Massenquellen, die in Zentralarchiven bislang weitgehend ungenutzt geblieben sind, wertvolle Einsichten eröffnen können. Ihr zentralstaatlicher Blick ist kürzlich durch eine Regionalstudie passend ergänzt worden. [4] Auch weiteren Mobilisierungskampagnen der 1930er Jahre wäre eine dezidierte Untersuchung ihrer Bedingungen, Mechanismen und Auswirkungen auf staatliches Handeln in dieser Form zu wünschen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Karl Schlögel: Stimmzettel gegen Volksfeinde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.2017, 7.
[2] Stalin in einem Gespräch mit dem US-amerikanischen Verleger Roy Howard im März 1936, in: Pravda, 5.3.1936, 2.
[3] Vgl. J. Arch Getty: State and Society under Stalin: Constitutions and Elections in the 1930s, in: Slavic Review 50 (1991), 18-35.
[4] Vgl. Samantha Lomb: Stalin's Constitution. Soviet Participatory Politics and the Discussion of the 1936 Draft Constitution, Abingdon/New York 2018.
Acelya Bakir