Inge Pardon / Michael Pardon: Tulpanow. Stalins Macher und Widersacher. Die Biographie, Berlin: edition ost 2014, 256 S., 80 s/w-Abb., ISBN 978-3-360-01886-1, EUR 28,00
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Oberst Sergej Iwanowitsch Tjulpanow (1901-1984), Tulpanow in anderer Umschrift, war in den Jahren 1945 bis 1949 der Chef der Propaganda-, ab 1947 Informationsverwaltung der Sowjetischen Besatzungsadministration in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (SMAD). Obwohl 1949 zum Generalmajor befördert, fixierte ihn die Geschichtsschreibung als ewigen Oberst. In der DDR-Propaganda wurde er als Kulturoffizier ins Schaufenster gestellt, und in der vorliegenden Publikation nun gar zu "einem der bedeutendsten sowjetischen Politiker der deutschen Nachkriegsgeschichte", einem "der wichtigsten Männer Moskaus in Berlin" hochstilisiert (Vorwort von Moritz Mebel). Indes, Kulturoffiziere kannte die SMAD nicht. Kulturoffiziere gab es aber in der US-amerikanischen Besatzungsverwaltung, die DDR übernahm den Ausdruck in ihre Propaganda.
Obwohl das Buch als Biografie ausgeflaggt ist, konzentrieren sich die Autoren auf die Berliner Dienstzeit Tjulpanows, mit kurzen Ausflügen in die Vor- und Nachgeschichte. Nach seiner Abberufung aus Deutschland wirkte Tjulpanow in seiner Heimatstadt Leningrad als Dozent an der Marineakademie und nach der Entlassung aus der Armee 1956 bis 1977 als Lehrstuhlleiter für Ökonomie des modernen Kapitalismus an der Universität Leningrad. Wie die zahlreich abgedruckten Fotografien belegen, blieben aber Erinnerungen an die Berliner Zeit ein zentrales Element seiner Vita. Nebenbei dementieren die vielen Bilder die Spekulationen der Autoren, ihr Held könnte dem sowjetischen Geheimdienst angehört haben: Für Geheimdienstler galt nämlich striktes Fotografierverbot. Und es hätte sich gelohnt, die vielen "Freunde" - eine historische Chiffre für deutsche Parteigenossen - Tjulpanows mit in russischen Archiven zahlreich überlieferten Namensverzeichnissen von Empfängern von Sonderverpflegung abzugleichen. Diese wurde in der Tat von der Informationsverwaltung verteilt. Das Buch erweckt den Eindruck, dass zumindest einige Abschnitte zu unterschiedlichen Zeiten entstanden sind und im Buch nachträglich zusammengefügt wurden. Die präsentierte Literaturliste ist imposant, gleichwohl wurde die Literatur nicht systematisch ausgewertet. Gleiches gilt für das Quellenverzeichnis, denn archivalische Spuren sucht man in den Fußnoten vergeblich.
Die Verfasser hatten und haben eine ganz besondere, eine persönliche Beziehung zu Tjulpanow. Ilse Pardon promovierte in den 1970er Jahren in Leningrad bei Tjulpanow, in der Wendezeit war sie Leiterin des Zentralen SED-Archivs. Ihr Mann Michael war nach einem Fachstudium in der UdSSR Offizier der DDR-Luftstreitkräfte. Mehrere Russlandaufenthalte führten sie in den Tjulpanow-Familienkreis. Ihr Anliegen entspricht aber auch dem seinerzeit großen Interesse an der sowjetischen Nachkriegspolitik in Deutschland, das Tjulpanow zur Ikone machte. Die von Tjulpanow geleitete Propaganda-/Informationsverwaltung der SMAD hatte überwiegend andere Aufgaben als Kulturpolitik. Sie wies auch nicht die "kadermäßig stärkste Besetzung der SMAD" auf (164); in der Reparationsverwaltung war zeitweilig zehnmal mehr Personal im Einsatz. So transportiert der auf Tjulpanow fixierte Personenkult vornehmlich alte DDR-Geschichtserzählungen, und dieses Buch ignoriert souverän den Forschungsstand. Diese Erzählung verstärkt eine moderne Polemik gegen "Russophobie" und "demagogische Phrasen und demagogische Lügen" der "neuen alten Herrscher" (16). Gemeint ist die auf russische Archivquellen gestützte Geschichtsschreibung.
Tjulpanow wird ein Alleinstellungsmerkmal bescheinigt, das er nicht besaß. Die Autoren gehen davon aus, dass die komplexe Organisationsstruktur der SMAD und ihre klandestine Politik Manöverraum für Tjulpanows (eventuelle) Eigeninitiative bot, was unbelegt bleibt. Er habe sich an das dreiseitige "Potsdamer Abkommen" als "vertraglich fixierte Nachkriegsordnung" (160) gehalten und an den KPD-Aufruf vom 11. Juni 1945 (mit dem Satz, dass es falsch wäre, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen). Tjupanows Rolle im Besatzungsapparat ist überzeichnet und schöngefärbt.
Nicht anders als undialektisch muss man die Darbietung der sattsam bekannten "zwei Linien" der sowjetischen Zonenpolitik bezeichnen, die nun sogar um eine besondere Linie Tjulpanows ergänzt ist, die er "nie verlassen hat" (25). Hat nicht Stalin 1948 die SED-Führung belehrt, dass auch ein Zickzack eine Linie bildet? Es gibt etliche faktografische und argumentative Widersprüche. Zu vieles von dem, was immer schon Fragen aufgeworfen hat, bleibt unerwähnt. So ist Tjulpanows Beziehung zu SMAD-Chef Schukow nicht angesprochen. Der Marschall nannte ihn nicht in seinen 1990 auf Russisch erschienenen "authentischen" Erinnerungen, sein Name wurde nur in die ältere Fassung hineinredigiert, die ins Deutsche übersetzt wurde. Auf sie beziehen sich die Autoren. Aufschlussreich ist, dass einige Legenden aus der Vita Tjulpanows von ihm selbst stammten: 1946 erwähnte er gegenüber einem Mitarbeiter der US-amerikanischen Besatzungsverwaltung, er habe in Heidelberg studiert, was er 1971 auch gegenüber den Autoren angegeben habe. Als Beleg wird der westdeutsche "Spiegel" genannt. Der Mannheimer DDR-Forscher Manfred Koch hat aber 1984 recherchiert, dass es weder an der Heidelberger Universität noch in der dortigen Stadtverwaltung irgendwelche Hinweise darauf gibt. Auch andere Anleihen aus der damaligen Tagespresse verwundern nur. Die Behauptung in "Die Welt" vom 17. Mai 1949, dass Tjulpanow "höchster Repräsentant der KPdSU in der SMAD" (FN 52) bzw. gar "Parteisekretär aller KPdSU-Mitglieder in der SMAD" (182) gewesen wäre, ist absurd. Dafür gab es klare Bestimmungen. Tjulpanows Abberufung 1949, ein Dauerbrenner der Spekulationen um seine Person, erscheint den Autoren als Folge einer mit "weltfremd und töricht" bezeichneten Deutschlandpolitik Stalins (102). Dabei entsprach sie zunächst der Dienstvorschrift: Die Dienstdauer im Ausland war für sowjetische Offiziere auf drei Jahre begrenzt. Tjulpanow geriet 1949 zugleich ins Visier des Geheimdienstes. Die geheimdienstliche Intervention wurde damals allgemein als Verfahrensbeschleuniger eingesetzt, denn an Tjulpanows Abberufung hatte die Moskauer politische Armeeverwaltung schon ein Jahr lang gearbeitet. Diffamierungstaktiken rufen auch die Autoren grundlos, zumindest nicht überzeugend, zu Hilfe.
Was Tjulpanow konkret alles besser als Stalin machen wollte, und wer ihn woran hinderte, verschwindet im Nebel der Ikonisierung. Das ausgewertete Privatarchiv Tjulpanows und die vielen interviewten Zeitzeugen scheinen nicht besonders ergiebig gewesen zu sein. Vermisst wird im Buch ein Hinweis auf den Verbleib der Urfassung seiner erst nach dem Tod und nur in deutscher Sprache erschienenen Erinnerungen. Zu Beginn der 1990er Jahre hieß es in Moskau, dass die weit umfangreichere Rohfassung im Archiv des russischen Außenministeriums deponiert sei; dort wurde 1951 auch der administrative Nachlass der Informationsverwaltung der SMAD untergebracht. Die Autoren verschwenden darauf keinen Gedanken. Den einzigen wissenschaftlichen Ertrag bilden die sechs gelüfteten Pseudonyme Tjulpanows. Viele Fachausdrücke wie etwa Sowjetisierung bleiben schwammig, weil der konkrete Deutungsinhalt nicht ausdekliniert wird. Das Buch ist in den spezifischen regionalen erinnerungspolitischen Bewältigungskontext einzuordnen. Früher hätte man das griffiger Geschichtspropaganda genannt.
Jan Foitzik