Mark Fenemore: Fighting the Cold War in Post-Blockade, Pre-Wall Berlin. Behind Enemy Lines (= Routledge Studies in Modern European History; 71), London / New York: Routledge 2019, XIII + 263 S., eBook, ISBN 978-0-429-20237-7, GBP 29,59
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Was für eine Grenze war das, die die Berliner Teilstädte zwischen dem Ende von Blockade und Luftbrücke 1949 sowie dem Bau der Mauer 1961 trennte und verband? Mark Fenemores Monografie gibt eine Auswahl an Antwortmöglichkeiten auf diese Frage und den damit verbundenen Schwebezustand im Verhältnis beider Stadthälften in den langen Berliner 1950er Jahren. Dieser Umstand - vom Autor als Besonderheit Berlins bewertet - machte die Stadt zum hypersensiblen Resonanzboden des Kalten Krieges, was die Wichtigkeit, die Berlin von Ost und West beigemessen wurde, unterstreicht.
Fenemore nähert sich (West-) Berlin mit Hilfe eines mikrohistorischen Zuschnitts auf das Ost-West-Konfliktfeld Berlin, dem "ground zero of the cold war" (1). Im Sinne des Analyserahmens der "Critical Border Studies" wird die Grenze in und um Berlin als etwas verstanden, das sich nur in der Praxis materialisiert und von ihrer Performanz abhängig ist. Er nutzt hierfür die Werkzeuge der Alltags- und Mentalitätsgeschichte, um seinem Anspruch gerecht zu werden, eine Geschichte Berlins im Kalten Krieg von unten zu schreiben. Es waren die Erfahrungen und Verhaltensweisen der Berlinerinnen und Berliner im Systemkonflikt, welche den Umgang mit der Überquerung und Kontrolle der Grenze (auch auf der Metaebene) definierten. Fenemores Quellengrundlage sind dabei Überlieferungen sowohl aus lokalen als auch aus staatlichen Archiven, insbesondere Archivalien Berliner, amerikanischer, britischer und französischer Provenienz. Hinsichtlich der östlichen Quellen zieht Fenemore vor allem Akten der Staatssicherheit der ehemaligen DDR zurate. Auf sowjetische Quellen konnte er nicht zurückgreifen (15). Der Schwerpunkt des Buchs liegt somit auch hinsichtlich der Quellenüberlieferung mehr auf dem Westteil der Stadt.
Fenemore gliedert seine Untersuchung in vier Teile, die jeweils einer Kategorie des Nervenkrieges in Berlin - "territorial, psychological, economic and cultural" (15) -gewidmet sind, wobei der Autor darauf aufmerksam macht, dass die vier Bereiche oftmals miteinander verflochten waren (8). Innerhalb der Großkapitel wählt er einen chronologischen Zugriff. Im ersten Teil wird die Offenheit der Grenze zwischen den zwei Weltanschauungssystemen innerhalb Berlins veranschaulicht, wohingegen die Grenze der westalliierten Sektoren zu ihrem Brandenburger Umland schon 1952 undurchlässig geworden war und die Exklaven in ihrer Existenz bedroht wurden. Die Grenze als Zwischenraum wurde während des Reichsbahnerstreiks der Unabhängigen Gewerkschaftsorganisation im Mai 1949 erstmals plötzlich aufgelöst.
Die kollektive Psyche der Bevölkerung in West-Berlin war dauerhaft angespannt und ein von alliierten und West-Berliner Verantwortlichen zu berücksichtigender Faktor in der Frontstadt, wie Fenemore im zweiten Teil des Buchs offenlegt. Massenveranstaltungen im Ostteil - der Autor berücksichtigt leider keine westlichen Großereignisse wie den Deutschen Katholikentag 1952 oder den Evangelischen Kirchentag 1961 - schürten die Invasionsgefahr und forderten die Sicherheitskonzepte der westlichen Alliierten und der West-Berliner Polizei heraus.
Der individuelle Umgang mit der Grenze ist Gegenstand des dritten Untersuchungsabschnitts, der sich mit Blick auf Schwarzhandel und Grenzgängerwesen der kapitalistischen Infiltration der "Hauptstadt der DDR" annähert. Fenemore illustriert, wie West-Berlin trotz seiner schlechten Ausgangslage den Wettbewerb hinsichtlich des Lebensstandards seiner Bevölkerung und der kulturellen Attraktivität gegenüber dem Osten mehr und mehr für sich entscheiden konnte. Mit Grenzverkehr und Schmuggel wurde jedoch zugleich eine individuelle Zurückweisung der politischen Teilung durch die eigene Lebenswirklichkeit ausgedrückt.
Durch die Durchlässigkeit seiner innerstädtischen Grenze erfüllte Berlin sowohl für die staatlichen Geheimdienste beider Seiten als auch für antikommunistische Nichtregierungsorganisationen die Funktion eines Brückenkopfs. Gleichwohl erleichterte diese Situation den östlichen Kräften die Verschleppung missliebiger Akteure in den Ostsektor. Die Grenze und die sie beschirmenden Rechtsräume, so Fenemores Fazit im vierten Großkapitel, wurden in diesem Konflikt zwischen den Geheimdiensten ignoriert. Der Bau der Mauer war der finale Schritt vonseiten der DDR eine harte Grenze zum kapitalistischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell zu schaffen. Die Grenzbefestigung stellte damit zugleich die bislang gültige westalliierte Interpretation der Viermächtevereinbarungen über Berlin, inklusive der Personenfreizügigkeit in der gesamten Stadt, endgültig infrage.
In den vergangenen Jahren sind über Berlins langes Jahrzehnt von 1949 bis 1961 zahlreiche Arbeiten entstanden, die zu einer Renaissance der Forschung über West-Berlin beigetragen haben. Die Sektorengrenzen sind dabei nur eines von vielen kulturgeschichtlichen Untersuchungsobjekten in der "Stadt zwischen zwei Welten" [1], die das Verständnis des Ost-West-Konflikts in der Stadt, aber auch in seiner nationalen und globalen Dimension vertiefen. Es ist die Stärke von Mark Fenemores Werk, die facettenreiche Gestalt des Grenzraums in Berlin für die Zeit zwischen Blockade und Mauerbau lebendig werden zu lassen. Der örtlich begrenzte Fokus auf die "behind-the-lines position" (242) fördert eine lokale Dimension des Kalten Krieges zutage, die Aussagen über den Effekt dieser Ausnahmesituation auf die Berliner Identität erlaubt. Das Selbstverständnis der Bürgerinnen und Bürger - das zeigte ihr Umgang mit der Systemgrenze bis zum Mauerbau (trotz ihrer deutlichen Präferenz für das kapitalistische System im Westteil) - war auf die Gesamtstadt ausgerichtet.
Fenemores Untersuchung ist somit eine Werbung für die intensivere Beschäftigung mit der Geschichte der 1950er Jahre in Ost- und West-Berlin. Denn sie deckt die Potentiale für diesen Forschungszeitraum auf, Verflechtungsräume zu suchen, statt zwei getrennte Innengeschichten der Teilstädte zu erzählen. Der Küstenstreifen der Insel West-Berlin war noch nicht abgetragen, auch wenn die Gezeiten ihm mehr und mehr zusetzten.
Anmerkung:
[1] Winfried Rott: Die Insel. Eine Geschichte West-Berlins 1948-1990, München 2009, 93-126.
Alexander Olenik