Corine Defrance / Ulrich Pfeil: La construction d'un espace scientifique commun? La France, la RFA et l'Europe après le 'choc du Spoutnik' (= L'Allemagne dans les relations internationales; Vol. 3), Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2012, 321 S., ISBN 978-90-5201-857-7, EUR 38,00
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Ulrich Pfeil: Mythes et tabous des relations franco-allemandes au XXe siècle. Mythen und Tabus der deutsch-französischen Beziehungen im 20. Jahrhundert, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2012
Mit stupender Produktivität haben Corine Defrance und Ulrich Pfeil unsere Kenntnisse über die Entwicklung des deutsch-französischen Verhältnisses nach dem Zweiten Weltkrieg durch wissenschaftliche Abhandlungen, die Organisation von Konferenzen und die Herausgabe von Tagungsbänden in erheblichem Maße erweitert. [1] Als jüngstes Produkt ihres kongenialen Teamworks liegen nun die Ergebnisse eines internationalen Symposiums vor, das die Forscherin am Centre national de la recherche scientifique und der Professor an der Université de Lorraine in Metz 2010 über die Rolle der Bundesrepublik und Frankreich bei der Schaffung eines europäischen Wissenschaftsraums im Zeitraum zwischen dem "Sputnik-Schock" von 1957 und der Verabschiedung des ersten europäischen Rahmenprogramms von 1983 durchgeführt haben. Mit dem an der Schnittstelle der Geschichte der internationalen Beziehungen, der europäischen Integration und der Wissenschafts- und Technikgeschichte gelegenen Band betreten Defrance und Pfeil in vielfältiger Hinsicht wissenschaftliches Neuland. [2]
Im Zentrum der dezidiert forschungsorientierten, meist archivgestützten Aufsätze stehen die Frage nach Konvergenz und Divergenz der (west-)europäischen Wissenschaftssysteme und das Spannungsverhältnis von Konkurrenz und Kooperation zwischen den beteiligten Staaten. Besondere Aufmerksamkeit widmen die Autoren den beiden Nachbarn am Rhein, Deutschland und Frankreich, die in einer "triple perspective de comparaison" (Defrance/Pfeil, 16) betrachtet werden: Gab es in der Wissenschaft und universitären Bildung eine privilegierte deutsch-französische Kooperation und darüber hinaus einen bestimmenden bilateralen Impuls für die europäische Zusammenarbeit? Wenn ja, resultierte er aus der Tatsache, dass die Europäische (Wirtschafts-)Gemeinschaft auf diesem Feld vertraglich nur beschränkte eigene Kompetenzen besaß? Und schließlich: Diente die bilaterale Kooperation primär den zwischenstaatlichen Interessen oder war sie als Einstieg in den europäischen Multilateralismus gedacht?
Drei Themenkreisen zugeordnet - "Relations scientifiques franco-allemandes et projet de coopération européenne"; "Acteurs et domaines de la coopération scientifique" und "Projets, échecs et réalisations en matière de relations scientifiques franco-allemandes" -, ergeben die sechzehn Beiträge folgendes Bild: Wenngleich mit der Gründung des europäischen Rats für nukleare Forschung bereits 1952 ein erster Schritt in Richtung auf einen europäischen Wissenschaftsraum gesetzt worden war, trieben die nationalen Strukturen und Egoismen der Mitgliederstaaten schon bald Sand ins Getriebe der Kooperation. Erst der Sputnik-Schock von 1957 und die zunehmend bedrohlichere amerikanische Herausforderung veranlassten sie in den 1960er Jahren zum wissenschaftlichen Schulterschluss. Die seither zu verzeichnenden Erfolge stellten sich dabei fachlich insbesondere in den Grundlagen- bzw. Naturwissenschaften und institutionell auf drei Ebenen ein: auf der Basis der mittlerweile bestehenden europäischen Verträge, der intergouvernementalen Abkommen und der Zusammenarbeit zwischen Bonn und Paris. Dem deutsch-französischen Tandem kam dabei zwar von Beginn an eine wichtige Rolle zu, von einer "force motrice principale" konnte aber nicht die Rede sein (Veera Nisonen, 78). Ungeachtet aller Bereitschaft zur intensiven Zusammenarbeit herrschte zwischen den beiden Nachbarn eben immer wieder auch ein gerüttelt Maß an Rivalität und Misstrauen, wie die gescheiterten Raumfahrtprogramme ELDO (European Launcher Development Organization) und ESRO (European Space Research Organization) belegen.
Zwei Jahrzehnte später waren die Vorbehalte dann jedoch so weit überwunden, dass der "accord préalable entre Paris et Bonn" (Georges Saunier, 95) wiederholt zum Stimulus gemeinschaftlicher Vorhaben wurde. Dies galt sowohl für die Entwicklung des ersten europäischen Rahmenprogramms als auch für die Erfolgsprojekte in der Luft- und Raumfahrtindustrie, namentlich die Trägerrakete Ariane, den geostationären Telekommunikationssatelliten Symphonie oder das Airbus-Unternehmen. "Le couple scientifique et technologique franco-allemand", so konstatiert Alain Beltran in seiner konzisen Bilanz, "s'est donc construit dans le temps, sans véritable passion au début, puis à partir d'une meilleure connaissance et d'une estime réciproques" (306). Der Rahmen für die wissenschaftliche Forschung der EWG/EG, die Festsetzung von Prioritäten und die Finanzierung wurden indes nicht von Bonn und Paris, sondern von Brüssel vorgegeben.
Anmerkungen:
[1] Corine Defrance / Ulrich Pfeil (Hgg.): Der Elysée-Vertrag und die deutsch-französischen Beziehungen 1945-1963-2003, München 2005. Vgl. die Rezension von Tim Geiger: http://www.sehepunkte.de/2007/06/9199.html. Corine Defrance / Ulrich Pfeil: Eine Nachkriegsgeschichte in Europa 1945 bis 1963. (WBG Deutsch-Französische Geschichte, Bd. 11.), Darmstadt 2011. Vgl. die Rezension von Veronika Heyde: http://www.sehepunkte.de/2012/10/22306.html. Corine Defrance / Ulrich Pfeil (Hgg.) : La France, l'Allemagne et le traité de l'Elysée 1963-2013. Paris 2012.
[2] Gewisse Anknüpfungspunkte bieten zwei ältere Tagungsbände: Yves Cohen / Klaus Manfrass (Hgg.) : Frankreich und Deutschland. Forschung, Technologie und industrielle Entwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990; Ulrich Pfeil (Hg.) : Deutsch-französische Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen im 20. Jahrhundert. Ein institutionengeschichtlicher Ansatz, München 2007.
Ulrich Lappenküper