Rezension über:

Diplomatische Dokumente der Schweiz. Documents diplomatiques suisses. Documenti diplomatici svizzeri. Band - Volume 1990. Forschungsleiter Sacha Zala, Redaktionsleiter Thomas Bürgisser (et al.), 2021, LII + 336 S., ISBN 978-3-907261-00-2, CHF 41,00
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Rezension von:
Jost Dülffer
Historisches Institut, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Peter Helmberger
Empfohlene Zitierweise:
Jost Dülffer: Rezension von: Diplomatische Dokumente der Schweiz. Documents diplomatiques suisses. Documenti diplomatici svizzeri. Band - Volume 1990. Forschungsleiter Sacha Zala, Redaktionsleiter Thomas Bürgisser (et al.), 2021, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 7/8 [15.07.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/07/35541.html


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Diplomatische Dokumente der Schweiz. Documents diplomatiques suisses. Documenti diplomatici svizzeri. Band - Volume 1990

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Wie viele etablierte, zumal westliche Staaten, hat auch die Schweiz eine repräsentative Aktenedition. Seit den 1970er Jahren sind (in nicht-chronologischer Reihenfolge) insgesamt 26 Bände über die Zeit von 1848 bis derzeit 1975 erschienen. Für die zweite Serie sind die Folgebände bis 1989 in Arbeit. Konkret heißt das, dass für frühere Jahre ein Band bisweilen mehr als ein Jahrzehnt umfasste, für die Zeit seit 1945 aber nur noch wenige Jahre. Alle gedruckten Bände stehen dankenswerterweise als pdf online und sind auch nach Einzelbänden unter www.dodis.ch zu finden. Nunmehr wird mit der dritten Serie 1990 bis 1999 (warum eigentlich diese künftige Begrenzung?) ein neuer Weg beschritten. Zum einen sucht die Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (DDS) nunmehr mit der archivüblichen Dreißigjahresfrist Jahresbände vorzulegen - ein Standard, den die deutsche Edition bundesrepublikanischer Außenamtsakten schon 1993 setzte und der dort seither durchgehalten wurde, international einzigartig. Zum anderen wird der bei DDS schon seit 1997 eingeschlagene Weg konsequent fortgesetzt, nämlich nicht nur hybrid zu publizieren, sondern zusätzliche Quellen auf der Webseite im Faksimile, sprich: als Kopie der Originalakte online zu stellen. Das wird für DDS 1990 so erweitert, dass 62 gedruckten Dokumenten ca. 1500 weitere auf der Webseite zusätzlich zur Verfügung gestellt werden (das wird redundant etliche Male erwähnt). Damit handelt es sich also nur etwas mehr als 4 % der Dokumente (der reine Textanteil dürfte größer sein).

Zu Recht bezeichnen Beiratspräsidentin Madeleine Herren und Forschungsstellen-Leiter Sacha Zala dies als internationale Pioniertat, die nach Meinung dieses Rezensenten auch für andere Ländereditionen Schule machen könnte und sollte, wird doch so wesentlich mehr als üblich ohne Archivbesuch zugänglich. Das heißt zugleich, dass die abgedruckten Dokumente oft Rahmen- oder Schlüsseldokumente sind, deren Anmerkungen auf die online-Edition verwiesen wird. Das können schon einmal 50 direkte Verweise aus dem Protokoll einer interdepartmentalen Sitzung zur Entwicklungspolitik sein (Nr. 17). Hier liegt der eigentliche Gewinn an Vertiefungsmöglichkeiten von der Nutzerseite, wobei die 1500 zusätzlichen Dokumente verständlicherweise nicht alle durch die gedruckte Version, wohl aber durch die gut durchdachte Datenbank erschlossen werden. Die sonst in Akteneditionen weitgehend verpönten Kürzungen von Quellen werden mit dieser Edition leichter möglich, ist doch der Volltext sofort online verfügbar. Der Paperback-Band kostet dann auch nur den Preis eines billigen Taschenbuches und hat somit den Charakter eines Triggers für alle.

Ein letzter allgemeiner editorischer Punkt: Die Bearbeiter hatten nicht Zugang zu allen relevanten Akten, so dass diese ausdrücklich im Druck benannt werden, zusammen mit der Versicherung, dass man laufend Anträge auch auf deren Freigabe stellen werde. Merkwürdigerweise wurden nach Abschluss dieses Bandes dann dennoch einige Dossiers freigeben. Das "wirft etliche Fragen zur Verhältnismässigkeit dieser Entscheide auf" (278). Offenbar nicht mit dem Schweizer Gesetz vereinbar war die etwa bei der analogen deutschen Aktenedition (aber auch Forschungsprojekten sonst) gewährte Einsicht in alle relevanten Quellen, unter denen einige dann gegebenenfalls aus Geheimschutzgründen nicht freigegeben werden. Das ermöglicht den wissenschaftlichen Editoren einen umfassenderen Einblick als in der Schweiz derzeit wohl möglich ist.

Die Außenpolitik der Schweiz unterscheidet sich von der anderer Staaten vor allem dadurch, dass sie nicht primär von einem Außenministerium betrieben wird, sondern ausdrücklich wird wiederholt festgestellt: "Die Aussenpolitik ist Sache des Bundesrates" (Nr. 11, 55, Bundesrat Auer auf einer Sitzung des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten), d.h. der kollegialen Regierung. Gerade das unterstreicht den deliberativen (also: nicht Weisungen erteilenden) Charakter vieler hier edierter Dokumente von der Seite der Quellenproduzenten her; in der Online-Version gibt es wohl eher Verbindliches. In diesen Band gehören auch Grundsatzreden etwa des Bundespräsidenten, eine Konferenz aller Botschafter. 1990 war ein Schlüsseljahr für die Neudefinition des neutralen Status der Schweiz (vermutlich aber auch schon 1989 - da liegen die Quellen noch nicht vor), denn nach dem Ende des bisherigen Ost-West-Konflikts war anscheinend alles im Fluss. Einig war man sich, dass nur die militärische Neutralität noch voll aufrechtzuerhalten sei (Nr. 19). Man rechnete langfristig mit einem Rückzug der USA aus Europa (Nr. 28), erwartete einen langsamen Reformprozess im vormaligen Ostblock, wollte aber bis Ende 1990 die wieder entstandenen baltischen Staaten nicht anerkennen (Nr. 61). Es gab die Ansicht, dass das vereinte Deutschland sich stärker nach Osten orientieren könne (Nr. 43; Nr. 8, S. 39: "seelische Ostbewegung", Bundesrat Villiger), ohne dass man diese neue Perspektive des nördlichen Nachbarn als bedrohlich ansah. Die drei neu zu denkenden Problemkreise waren: UN-Beitritt - zumal angesichts der Tatsache, dass mehrere UN- oder andere internationale Organisationen in der Schweiz residierten. Sogar Liechtenstein, das bisher diplomatisch von der Schweiz vertreten worden war, trat selbständig der UNO bei (Nr. 41). Hier schien vorsichtige Offenheit ebenso angesagt wie bei der Frage nach dem Weltwirtschaftssystem, das öfter mit der Chiffre "Bretton Woods" bezeichnet wurde (Uruguay-Runden u.a.).

Am wichtigsten war aber die nach dem Europäischen Wirtschaftsraum, also ein weitgehender, aber nicht vollständiger Beitritt bzw. Anschluss an die Europäische Union. Ganz in diesem Sinne eines "Mittelwegs" zwischen Distanz und vollem Beitritt plädierte Bundespräsident Koller (Nr. 8, S.39), während andere Bundesräte eine stärkere Annäherung mit allen Vorteilen des freien Zugangs zum EU-Markt anstrebten; man könne Verhandlungen immer noch platzen lassen. Besonders heftig ging es in einer Debatte der Wirtschaftskommission des Nationalrats im November zu, handelte man hier doch auch über die Freizügigkeit der Personen (Nr.52). Bei Scheitern der EWR-Verhandlungen drohe Isolation (Nr. 56) (Auch nach zahlreichen Einzelabkommen spielt das ja bis in die Gegenwart des Jahres 2021 eine gewichtige Rolle). Erschwerend kam hinzu, dass andere Mitglieder (der in den sechziger Jahren als Konkurrenz zum EWG begründeten niederschwelligen) Freihandelszone EFTA sehr viel stärker auf direkte Adaption an die EU abzielten, so dass die Schweiz auch in diesem Kreis isoliert zu werden drohte. Ähnliches zeigte sich im Bröckeln in der ehemals wichtigen Gruppe der Neutralen und Nichtgebundenen (N +N) im KSZE-Prozess seit 1975. Recht kontrovers waren auch die internen Debatten um das schweizer Asylrecht in der Gegenwart und natürlich auch nach etwaigem EWR-Beitritt (Nr. 53).

Einigen Raum nehmen die Schweizer Bemühungen um Afrika und Lateinamerika ein, z. B. besonders um die Entwicklungshilfe für Namibia (Nr. 31); der kommende Irakkrieg wirft seine Schatten voraus. Besuche von Ausländern - so auch der einzige Besuch eines DDR-Ministerpräsidenten de Maizière (Nr. 35), des neuen tschechoslowakischen Präsidenten Havel (Nr. 54) oder des damals noch Vizepräsidenten des African National Congress Nelson Mandela (Nr. 25) ragen heraus. Auch das (private) Weltwirtschaftsforum in Davos wurde von der Schweizer Regierung beobachtet und zu Kontakten mit Besuchern genutzt.

Zur Anlage der Edition mögen noch ein paar eher technische fragende Bemerkungen am Schluss stehen. Nach Schweizer Gewohnheiten werden die Berichte je nach Sprecher auch in einem Dokument wechselnd auf Deutsch und Französisch gedruckt; nur ein Dokument ist italienisch abgefasst. Die Hauptbearbeiter geben nach zwei allgemeinen Einleitungen ein ausführliches, gut 20-seitiges Digest der Inhalte, es folgt ein regestiertes Dokumentenverzeichnis. Ziemlich alles andere ist als Appendix per Barcode in Dodis verwiesen (Verzeichnis aller erschlossener 1990er Akten, aller benutzter Dossiers, Abkürzungen, drei Register), nicht jedoch die dreisprachige Auflistung und Diskussion der gesperrten Akten. Dieser Nutzer hätte stattdessen einiges davon hilfreicher in der gedruckten Version gesehen, damit man nicht immer zwischen Druck und Online wechseln muss, um eine Abkürzung oder die Funktion eines Politikers erschließen zu müssen. Und schließlich: so nett es auch sein mag, dutzende Fotos aus den Akten von Schweizer Politikern, Bundesrat, ausländischen Staatsbesuchern im Text zu sehen, so hätten gerade diese doch besser in Dodis gepasst. Jedenfalls ist Bundespräsident Koller auf dem Umschlagfoto bei der Unterzeichnung der KSZE-Erklärung von Paris am 21. 11.1990 zu sehen - seine Rede über eine neue Ära aus diesem Anlass und die Treffen mit anderen Politikern (Nr. 50, 51) waren viel ergiebiger als diese Konterfeis, ausnahmslos von Männern. Eine innovative Edition ist zu begrüßen, bei dem über die Relation der Teile in der programmatisch verkündeten "open science" nochmal nachzudenken wäre.

Jost Dülffer