Rezension über:

Julia Weitbrecht / Andreas Bihrer / Timo Felber (Hgg.): Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit (= Encomia Deutsch; Bd. 6), Göttingen: V&R unipress 2020, 345 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-3-8471-1097-2, EUR 45,00
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Rezension von:
Manuel Kamenzin
Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Sebastian Becker
Empfohlene Zitierweise:
Manuel Kamenzin: Rezension von: Julia Weitbrecht / Andreas Bihrer / Timo Felber (Hgg.): Die Zeit der letzten Dinge. Deutungsmuster und Erzählformen des Umgangs mit Vergänglichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit, Göttingen: V&R unipress 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 9 [15.09.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/09/34148.html


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Julia Weitbrecht / Andreas Bihrer / Timo Felber (Hgg.): Die Zeit der letzten Dinge

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Der anzuzeigende Sammelband vereint unter leicht abgewandeltem Titel die Ergebnisse einer Kieler Tagung aus dem Jahr 2018 [1]. Der Einleitung der Herausgebenden kann entnommen werden, dass hier das Verständnis der quattuor novissima (Tod, Gericht, Himmel und Hölle) auf jegliche "Phänomene des Umgangs mit Vergänglichkeit" erweitert wird (8). Eingeteilt in die vier Sektionen "Zeit und Ewigkeit", "Textpraxis als Umgang mit Vergänglichkeit", "Praktiken der Textaneignung" sowie "Vermittlung und lndienstnahme zwischen Diesseits und Jenseits" finden sich verschiedenste Themen, Methoden und zeitliche Zuschnitte versammelt, von Seneca bis Luther, von der intensiven Lektüre einzelner Handschriften bis hin zur Betrachtung ganzer Textgattungen.

Die erste Sektion umfasst drei Texte: In einem breiten Überblick und unter Rückgriff auf zahlreiche Vorarbeiten lotet Hans-Werner Goetz gekonnt das Verhältnis von Zeit, Ewigkeit, Eschatologie sowie den letzten Dingen aus und legt somit für die folgenden Beiträge ein hervorragendes Fundament. Romedio Schmitz-Esser fasst die "Zeit der letzten Dinge" sehr konkret auf, indem er die Zeitabschnitte aufarbeitet, die im Umgang mit den Toten relevant waren oder es zumindest sein sollten. Todestag und Todesstunde, drei, vier, sieben, neun oder dreißig Tage nach dem Tod stellen Zeitpunkte und -abschnitte dar, denen meist auf biblischer Grundlage eine Bedeutung für den Umgang mit den Toten zukam. Diese Abschnitte werden über den Jahrtag schließlich bis zum Tag des Jüngsten Gerichts fortgeführt und jeweils in ihren Ursprüngen, aber auch in ihren konkreten Anwendungen, Entwicklungen und Konsequenzen vorgestellt. Christian Kiening rundet die Sektion mit seinem Aufsatz ab, der am Beispiel der Jedermann-Dramen des 15. und 16. Jahrhunderts auf eine weitere Auffassung einer letzten Zeitspanne hinweist: Die Zeit des Aufschubs, die sich durch einen ermahnenden Hinweis auf die eigene Sterblichkeit ergibt und die zu einem Wechsel des Lebenswandels vor dem Tod genutzt werden sollte.

Der Abschnitt "Textpraxis als Umgang mit Vergänglichkeit" bietet gleichermaßen drei Aufsätze, die hier nun verschiedene Modi der Textbetrachtung vorstellen: Henrike Manuwald beschäftigt sich mit der Sammelhandschrift München Cgm 717 und arbeitete dabei heraus, wie Bemühungen um die letzten Dinge aus dem monastischen Kontext auch in ein tätiges Leben integriert wurden. Julia Frick befasst sich mit der Nibelungenklage in ihren verschiedenen Fassungen, während Aleksandra Prica Senecas Troades und Martin Opitz' Übersetzung Trojanerinnen vergleichend betrachtet. Den letzten Dingen im klassischen Sinne wendet sich Stefan Abel in seinem Artikel zum Cordiale de quatuor novissimis des Gerard von Vliederhoven im Rahmen der Sektion "Praktiken der Textaneignung" zu. Christian Schmidt hingegen konzentriert sich auf den ebenfalls erkenntnisleitenden Aspekt der Zeit in seinem Beitrag zu geistlichen Texten des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, die sich an der Struktur eines zwölf- oder vierundzwanzigstündigen Tages und somit an den zu dieser Zeit aufkommenden Schlaguhren orientieren. Die detaillierte Abhandlung mündet in ein Verzeichnis gedruckter Texte dieser Art und legt so inhaltlich und heuristisch Grundlagen für eine noch zu schreibende Synthese. Patrick Nehr-Baseler behandelt im letzten Text der Sektion das 'Münchener Eigengerichtsspiel' und das 'Münchener Weltgerichtsspiel', zwei geistlichen Spiele des frühen 16. Jahrhunderts.

Im Zentrum der letzten Sektion stehen "Vermittlung und lndienstnahme zwischen Diesseits und Jenseits". Marcel Bubert und Katja Weidner widmen sich dabei Grenzüberschreitungen, allerdings in verschiedenen Kontexten: Bubert untersucht auf pagane Wurzeln zurückgehende Berichte über Anderwelt-Reisen und ihre legitimatorische Rolle in der "hybriden Geschichtskultur des irischen Mittelalters, in der lateinische und irische Traditionen auf komplexe Weise verflochten wurden" (266). Weidner hingegen betrachtet die Verse De Enoch et Helia Gottfrieds von Viterbo, die sich in den Handschriften der letzten Redaktionsstufe seines Pantheon finden und von der Reise einiger Mönche aus St. Mathieu de Finistère zum mystischen Aufenthaltsort der biblischen Figuren Enoch und Elias berichten. Während die von Buberet geschilderte Überlieferung zu Besuchen in der Anderwelt später für politische Autorisierung genutzt wurden, können die durch Weidner behandelten Mönche keinen Nutzen aus ihrem Besuch an einem Ort schlagen, der zwar als "paradiesischer Raum" (302) geschildert, aber explizit nicht als irdisches oder himmlisches Paradies identifiziert wird.

Unter dem plakativen Titel "Herrschaftszeiten!" befasst sich Rike Szill mit einer besonderen Form der Vermittlung zwischen Diesseits und Jenseits: Sie zeigt, auf welch unterschiedliche Weise die beiden byzantinischen Chronisten Dukas und Kritobulos von Imbros mit den apokalyptischen Implikationen der Einnahme Konstantinopels 1453 umgingen. Um die Zeit nach der Eroberung nicht als allgemeine Zeit der letzten Dinge sehen zu müssen, die folgerichtig unmittelbar zum Ende der Welt führen müsste, distanzierte sich Dukas von eschatologischen Geschichtskonzepten, während Kritobulos von Imbros die Osmanen schlicht zu den Fortsetzern des byzantinischen Erbes erklärte und damit den Grund für unheilvolle Annahmen beseitigt. In beiden Fällen wurden somit Erwartungshaltung und Wirklichkeitserfahrung in Einklang gebracht. Im letzten Aufsatz des Bandes knüpft Lisa-Marie Richter schließlich an die letzten Dinge in der engeren Definition an, indem sie reformatorische Ars moriendi Schriften untersucht.

Die breit gestreuten Beiträge lassen sich um die eingangs angeführte, erweiterte Definition "letzter Dinge" in ihrer Zeitlichkeit versammeln. Eindrucksvoll werden dabei die Bandbreite und die Spielarten des Themas vor Augen geführt. Neben den zahlreichen Detailerkenntnissen fällt allerdings auch auf, dass Möglichkeiten, diese stärker zu verbinden, nicht wahrgenommen wurden (Querverweise/Rückbezüge der Texte untereinander fehlen ebenso wie zusammenführende Schlussbetrachtungen).


Anmerkung:

[1] Siehe die Tagungsankündigung bei H-Soz-Kult: https://www.hsozkult.de/event/id/event-87182.

Manuel Kamenzin