Robert-Tarek Fischer: Wilhelm I. Vom preußischen König zum ersten Deutschen Kaiser, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 404 S., 12 Farbabb., ISBN 978-3-412-51926-1, EUR 35,00
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Wilhelm I. stand immer schon im Schatten seines Kanzlers Otto von Bismarck. Daran ändert sich nichts - auch nicht nach der Lektüre der neuen Biografie von Robert Tarek-Fischer, der ganz unprätentiös genau dies ebenfalls feststellt: "In Summe gesehen, übte Wilhelm I. auf die großen innen- und außenpolitischen Ereignisse der turbulenten 1870er Jahre nur punktuell nennenswerten Einfluss aus. Generell spielt er auf dem politischen Parkett nur eine zurückgenommene Rolle". Indes - so Tarek-Fischer weiter: "Das alles bedeutete nicht, dass Wilhelm I. am politischen Geschäft keinen Anteil mehr genommen hätte. Im Gegenteil: Er verwandte viel Energie darauf, sich über aktuelle Themen eine qualifizierte Meinung zu bilden" (274).
Diese Kernaussage findet sich an entlegener Stelle mitten im fortlaufenden Text und nicht sonderlich hervorgehoben. Und sie steht in einem Spannungsverhältnis zum Schlusssatz der - sehr kurz gefassten - Einleitung: "Insgesamt lässt" das Buch "sich auch als Studie über die tiefen Fußspuren, die Wilhelm I. in der preußisch-deutschen Geschichte hinterließ, verstehen" (21). Diese scheinbare Widersprüchlichkeit löst sich jedoch auf. Das klassische politische Geschäft - das war eben die Domäne Bismarcks: Außen-, Kriegs- und Bündnispolitik, aber auch die großen innenpolitischen Entscheidungen Kulturkampf, Sozialistengesetze, Sozialpolitik, Sozialgesetzgebung und innere Konsolidierung des Deutschen Reiches. Auch diese Bereiche der Innenpolitik waren von Bismarck dominiert.
Aber es bleibt noch etwas übrig, das bisher in der Forschung zu Wilhelm I. weniger beachtet wurde: Die weichen Faktoren, die immer wichtiger in einer unruhigen Gesellschaft wurden, in der die Herrschenden immer abhängiger von dem Konsens der Beherrschten waren. Es ist das weite Feld der Identitätspolitik, kurz die Politik zur Formierung der deutschen Gesellschaft in einem konservativen, preußischen und monarchischen Sinn. Und genau hier hinterlässt Wilhelm I. seine tiefen Fußspuren. Konkret hieß das: Militarisierung der deutschen Gesellschaft, gar nicht überall selbstverständliche Identifizierung aller seiner Bewohner mit Kaiser und einem Deutschen Reich, das von Preußen geführt wurde, undurchsichtiges Verhältnis zu den deutschen Staatsbürgern jüdischen Glaubens und ein Wilhelm I., der als Summus Episcopus die protestantische Kirche Preußens auf einen strikten Konservativismus sowohl in politischer als auch in religiöser Hinsicht ausrichtete.??Darauf hingewiesen und im Einzelnen herausgearbeitet zu haben: Darin liegt das wissenschaftliche Hauptverdienst der Arbeit von Robert Tarek-Fischer.??Militarisierung: ?Alles Militärische war immer schon die Domäne des Königs von Preußen und es blieb auch die Domäne des Deutschen Kaisers. Schon als Jugendlicher mit Enthusiasmus beim Militär, dann der Kartätschenprinz, der die 1848er-Revolution in Baden mit Waffengewalt niederschlug, dann der König, der über der Verlängerung der Dienstzeit für Soldaten in voller Absicht den schweren Verfassungskonflikt heraufbeschwor, dann der Befehlshaber, der mit seinem Volk in den Krieg von 1870 zog und gewissermaßen als einer der letzten Monarchen noch die Rolle eines König-Feldherrn ausfüllte (dabei zwar die Fähigkeiten eines Moltke anerkannte, sich jedoch die letzte Entscheidung immer vorbehielt), dann der Kaiser mit seiner Vorliebe für Truppenparaden, der so gut wie jeden Tag um 12.00 Uhr an seinem Eckfenster im Berliner Schloss stand, wenn die Wachen sich lautstark vor vielen Schaulustigen ablösten: "eine fast schon geniale Inszenierung" (286), das alles ohne Pomp, schlicht und in Uniform, die mitunter abgetragen war. Kein Monarch seiner Zeit gab einen "derart überzeugenden Soldaten ab wie Wilhelm I" (285). ?
Identifizierung mit Kaiser und Reich:?Das Eckfenster im Schloss war oft auch nachts beleuchtet: Der greise Kaiser arbeitete. Dies alles trug zur Identifizierung mit Kaiser und Reich bei. Und so ist es gerade der großväterliche, sich liebevoll um das Wohl seiner Untertanen kümmernde Kaiser, der je älter er wurde, immer mehr zu einem Objekt der Liebe vieler seiner Untertanen wurde. Die Person Wilhelms I. wurde geradezu zum Symbol für dieses Deutsche Reich. Und das, obwohl er einer der meistgehassten Personen 1848/49 war, der sogar zeitweilig nach London ins Exil gehen musste. Insgesamt eine bemerkenswerte Entwicklung, die auch damit zusammenhing, wie Tarek-Fischer herausarbeitet, dass Wilhelm I. zwar durch und durch zeit seines Lebens eine sehr konservative - man könnte auch sagen reaktionäre - Politik betrieb, aber mitunter sich elastisch, wenn auch zäh an realpolitische Gegebenheiten anpassen konnte. ?
Undurchsichtiges Verhältnis zu den Deutschen jüdischen Glaubens:?Auf der einen Seite ist das Verhältnis zu Moritz von Cohn zu nennen, der geradezu ein spätes Beispiel eines Hofjuden ist, der den jungen Prinzen im Exil 1848 finanziell unterstütze, dem auch der alte Kaiser verbunden blieb und dem er die Verwaltung seines Privatvermögens erfolgreich anvertraute. Dann 1869 die fast völlige Gleichstellung der Deutschen jüdischen Glaubens und immer wieder vorkommende Angriffe auf Juden wurden mit Härte geahndet.?Andererseits aber hielt er am Hofprediger Adolf Stöcker trotz aller Angriffe fest, dem glühenden Antisemiten und Begründer der gleichnamigen Partei. Und als das Maß antisemitischer Agitation Stöckers endlich voll zu sein schien, wollte Wilhelm I. anfänglich zwar den Hofprediger entlassen. Aber daraus wurde nichts, auch weil der spätere Kaiser Wilhelm II. bei seinem Großvater intervenierte. Dann tobte während der Regierung Wilhelms I. der erbittert geführte Antisemitismusstreit, - und der Kaiser bezog keine Stellung. Er versäumte, so Tarek-Fischer, mit seiner Autorität ein Zeichen zu setzen. Das wäre wichtig gewesen. Denn trotz weitgehender rechtlicher Gleichstellung bestand die gesellschaftliche Diskriminierung der Juden in Preußen und dem Reich weiter fort.??Ausrichtung der protestantischen Kirche Preußens im Sinne eines religiösen und politischen Konservativismus:?Hier ist es vor allem die wenig beachtete Personalpolitik, die Wilhelm I. als Summus episcopus seiner Kirche betrieb, die das traditionelle Bündnis zwischen Thron und Altar noch festigen sollte. Damit sind die wichtigsten Forschungserträge genannt. Aber es gibt auch noch andere. Tarek-Fischer hat eine Reihe persönlicher Quellen erstmals ausgewertet, welche das biografische Detailwissen über Wilhelms I. bereichern.
Fazit: Die Bedeutung der Biografie über Wilhelm I. korrespondiert damit, wie man das Gewicht weicher Faktoren für Geschichte und Gesellschaft bewertet. Für die Militarisierung der deutschen Gesellschaft, ihre Formierung nach konservativen Maßstäben und für ihr Zusammenwachsen im neuen preußisch-dominierten Reich jedenfalls spielte Wilhelm I. eine bislang so nicht bekannte Rolle. Das im Detail sehr genau herausgearbeitet zu haben ist das Verdienst von Robert Tarek-Fischer, der im Übrigen nicht zu den Historikern im Wissenschaftsbetrieb zählt, sondern im österreichischen Bundeskanzleramt tätig ist. Das macht seine Leistung noch bemerkenswerter. Und: Das Buch ist lesbar für ein breites Publikum.
Manfred Hanisch