Jürgen Müller (Bearb.): Demagogenverfolgung, Militärpolitik und wirtschaftliche Fragen 1824-1830 (= Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes. Abt. I: 1813-1830; Bd. 4), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2023, 2 Bde., CXLII + 1480 S., 1 Farb-, 12 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-107907-3, EUR 229,00
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Die Geschichte des Deutschen Bundes gehört zu den vergleichsweise weniger erforschten Epochen der deutschen Geschichte, nicht zuletzt deshalb, weil der Deutsche Bund mit Restauration überkommener Verhältnisse und repressiver Politik weder in der Tradition der nationalen Bewegung und nur sehr bedingt (Baden, Bayern, Württemberg) in der Tradition von Verfassungsstaat und Freiheitsrechten steht. Das waren von 1815 an die Hauptpunkte der Kritik am Deutschen Bund. Diesen kritischen Stimmen wird durch die sehr gute Auswahl in der Quellensammlung Rechnung getragen. Doch in neuerer Zeit sieht die Geschichtswissenschaft den Deutschen Bund nicht nur negativ. Es gibt auch zeitgenössische Stimmen, die dem Deutschen Bund positive Züge abgewinnen als einem Friedensbündnis nach den Gräueln der napoleonischen Kriege, in denen zu Hunderttausenden gestorben wurde. Darüber hinaus litten die Staaten unter den Kriegs- und Kriegsfolgekosten bis hin zum Staatsbankrott (Österreich, Dänemark) mit all den Folgen, die jeder Staatsbankrott zeitigt. Es gab jedoch nicht nur Kriegsgräuel, sondern auch die Gräuel der Französischen Revolution. Sie waren für viele Konservative schlechthin die Gräuel von Volksherrschaft, weshalb die die Staatsmänner des Wiener Kongresses zum Schluss kamen: Nie wieder! und ihr repressives System entwickelten.
Der sich formierende Frühkonservativismus hat keinen nennenswerten Eingang in die Quellensammlung gefunden. Es gibt viele zeitgenössische Theoretiker, z.B., von Friedrich von Gentz, Sekretär Metternichs, um einen der profiliertesten zu nennen, welche systemaffirmativ argumentierten. Der Name Gentz kommt in der Quellensammlung so gut wie nicht vor. Nur an drei Stellen wird er in anderen Zusammenhängen im Anmerkungsapparat peripher erwähnt. Allerdings entsteht der Frühkonservativismus in einem längeren Zeitraum als dem von 1824-1830 - dem Zeitraum, auf den der vorliegende Band eingegrenzt ist. Er nimmt vor allem "Demagogenverfolgung, Militärpolitik und wirtschaftlichen Fragen" in den Blick, so steht es im Untertitel. In Hinblick auf diese Themen lässt die Edition keine Wünsche offen. Bei den wirtschaftlichen Themen werden die Frage des Nachdruckschutzes, der innerdeutsche Handel, Zölle, Schifffahrt und Münzwesen behandelt. Bemerkenswert ist, dass auch die gemeinhin wenig beachtete Militärpolitik Aufnahme gefunden hat. Hier geht es vor allem um Ausbau und Unterhalt der Bundesfestungen.
Der Band enthält nicht nur amtliche Quellen, sondern auch diplomatische Korrespondenzen und Artikel aus Presse und Publizistik. Diese Mischung von Quellen unterschiedlicher Provenienz ist ein Alleinstellungsmerkmal. Wirtschaftliche Fragen werden stark gewichtet. So entsteht ein markantes Bild von den Zuständen im Deutschen Bund und deren Resonanz in der Öffentlichkeit - Zustände, die sich fast immer durch zähe Beharrung auf partikulare wirtschaftliche und politische, oft quisquilienhafte Einzelinteressen auszeichnen, mit der einen Ausnahme, wenn es darum ging, Repressionsinstrumente zu entwickeln und bundesweit anzuwenden.
170 Quellen wurden aufgenommen, darunter einige bereits andernorts veröffentlichte. Es ist jedoch die Zusammenstellung, die das Werk auszeichnet.
Um beispielhaft einen Eindruck zu vermitteln, welcher Art die Quellen sind, soll auf zwei hingewiesen werden: "Friedrich Seybold über die politische Situation Deutschlands", 1828 (1062-1071). Seybold war ein liberal-republikanisch gesinnter Publizist, der in dieser Schrift ungeachtet des ironischen Untertons ein überaus aussagekräftiges Bild von den beklagenswerten wirtschaftlichen und politischen Zuständen im Deutschen Bund entwickelt. Im krassen Gegensatz zu den Ausführungen von Seybold steht die liebedienerische und lobhudelnde "Eröffnungsrede Alexander von Humboldts bei der Versammlung der deutschen Naturforscher und Ärzte", 1828 (1060 f.), eine Rede, die man einem so aufgeklärten Geist wirklich nicht zugetraut hätte. Es ist eine der vielen Verdienste des Herausgebers, auch diese Quelle aufgenommen (und gefunden) zu haben.
Editorisch geht die Quellensammlung überaus sorgfältig und umfassend vor. Jeder Quelle ist ein gehaltvoller Abriss vorangestellt, der oft so informativ ist, dass man sich die mitunter seitenlange Lektüre der Quelle fast sparen kann. Der Anmerkungsapparat enthält detaillierteste Informationen zu so gut wie allen Begriffen, Namen und politischen Vorgängen, die in den Quellen angesprochen sind. Umfangreiche Register (ca. 10 % des Umfanges der beiden Bände) machen die Erschließung leicht.
Fazit: Die Quellensammlung ist editorisch vorbildlich. Sie vermittelt ein aussagekräftiges Bild der Zustände zwischen 1824 und 1830, gerade durch die Auswahl von Quellen unterschiedlicher Provenienz. Als Manko könnte man die Ausklammerung des sich formierenden Frühkonservativismus sehen, was jedoch zu relativieren ist, da ausdrücklich nur "Demagogenverfolgung, Militärpolitik und wirtschaftliche Fragen" Gegenstand der Quellensammlung sind. Gerade die Schwerpunktsetzung auf wirtschaftliche Fragen und Militärpolitik, die gegenüber der Demagogenverfolgung wissenschaftlich und in der Öffentlichkeit viel weniger behandelt wurden, zeichnet diese Quellensammlung aus.
Manfred Hanisch