Rezension über:

Dyson Elliott: The Corrupter of Boys. Sodomy, Scandal, and the Medieval Clergy (= The Middle Ages Series), Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2020, VIII + 378 S., ISBN 978-0-8122-5252-1, USD 45,00
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Rezension von:
Peter Dinzelbacher
Universität Wien
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Peter Dinzelbacher: Rezension von: Dyson Elliott: The Corrupter of Boys. Sodomy, Scandal, and the Medieval Clergy, Philadelphia, PA: University of Pennsylvania Press 2020, in: sehepunkte 21 (2021), Nr. 9 [15.09.2021], URL: https://www.sehepunkte.de
/2021/09/35354.html


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Dyson Elliott: The Corrupter of Boys

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Wie Dyan Elliot mehrfach explizit darlegt, waren die gegenwärtigen Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche ein Stimulus für die Untersuchung ihrer mittelalterlichen Analogien. Sie betont zweifellos zu Recht die Kontinuitäten sowohl im sexuellen Verhalten der zölibatären Geistlichen als auch in den Strategien der Hierarchie, dieses zu vertuschen oder zu verharmlosen.

Anders als vom Titel her zu erwarten, geht es aber in diesem Buch mindestens ebenso ausführlich um mittelalterliche Homosexualität generell wie speziell um Pädophilie. [1] Dies impliziert, dass wir oft mit Quellen und Forschungsmeinungen konfrontiert werden, die wir von den Publikationen John Boswells und anderer anglophoner Forscher durchaus kennen. Warum z.B. ein eigener Abschnitt über den Liber Gomorrhianus [2], in dem Päderastie nur kurz vorkommt, da es Petrus Damiani prinzipiell um 'Sodomie' ging, oder über Heloise und Abaelard, dem nicht einmal Bernhard von Clairvaux vorwarf, ein 'Verderber von Buben' zu sein? Aber es bleibt genug Neues und Spezifisches, um die flüssig geschriebene Studie zu einer lohnenden und aufgrund ihres Detailreichtums ab und an faszinierenden Lektüre zu machen.

Im ersten Teil werden, chronologisch geordnet, einige grundsätzliche Themen aus Sicht kirchlicher Autoren diskutiert: die Etablierung eines elitären Standes von 'Gesalbten des Herrn', das Problem des Zölibats, der Skandal sexueller Verfehlungen Geistlicher, die Gefahr der erotischen Anziehung von Jungen, die generelle Abwertung des Kindes, die 'Toleranz' Homosexuellen gegenüber in klerikalen und höfischen Kreisen des Hochmittelalters, die Bedeutung der Pflichtbeichte seit 1215 und vor allem des Beichtsiegels für die Praxis des Verschweigens und Marginalisierens.

Teil II bietet quasi eine Sakraltopographie sub specie gravioris culpae: Das Kloster, der Sängerchor, die Schulen, die bischöfliche Kurie als typische Orte des Missbrauchs. Besonders wichtig erscheint mir angesichts der Fülle von elogischen Publikationen über die wundervolle monastische Spiritualität der mittelalterlichen Orden, die das Bild des damaligen Klosterwesens nicht nur für die Allgemeinheit prägen, die von Elliott vorgelegte Dokumentation, wie sehr diese geschlossenen Institutionen oft genug auch Orte der Gewalt und Unterdrückung waren: "The tenor of monastic discipline created a pecking order of the beaters and the beaten ..." (148). Hier finden sich konkrete Fälle von Päderastie besprochen, auch Polemiken dagegen - markant Jean Gerson - und Ansätze zu Gegenmaßnahmen. Generell wird die Epoche Antike bis Hochmittelalter aber ausführlicher berücksichtigt als das späte Mittelalter; eine Erwähnung des Gilles de Rays, Titularkanoniker in Poitiers, wäre wohl zu erwarten gewesen.

Der umfangreiche dritte Teil enthält einen erfreulich eingehenden und weiterführenden Anmerkungsapparat sowie die Bibliographie (wie üblich ganz überwiegend anglophone Titel) und das Register.

Die Quellenbasis wird sachgerecht dominiert von theologischen und namentlich kirchenrechtlichen Texten. Zwar sahen diese bei der 'unnennbaren Sünde' teilweise krasse Strafen vor, welche jedoch anscheinend kaum je praktiziert wurden. Durchgehend agierten die Superioren viel mehr aus Angst vor dem Skandal als aus dem Willen nach Gerechtigkeit oder gar nach Entschädigung der Opfer. Unerlaubte Beziehungen zu Frauen waren faktisch häufiger und zogen auch in der Kanonistik mehr Aufmerksamkeit auf sich. Ebenso sind zahlreiche narrative, auch einige lyrische mittellateinische Texte berücksichtigt. Volkssprachliche Quellen dagegen scheinen kaum auf, hier gäbe es nicht wenige Ergänzungsmöglichkeiten (besonders aus Italien). Die Interpretationen sind sorgfältig, nur ein Detail sollte modifiziert werden: Es steht es keineswegs bei Ausonius, wie alt seine Freigelassene [3] Bissula war (39).

Eine Reihe von Problemen ist freilich bei der Beschäftigung mit diesem Thema nicht zu überwinden: einerseits die Unschärfe der damaligen Terminologie ("puer" kommt bekanntlich noch für erwachsene Krieger vor), andererseits die gegenüber heute deutlich differente Sicht der Epoche auf Kindheit. Wenn nach kanonischem (und vielen weltlichen Rechten) ein Mädchen mit 12 (oder sogar 7) Jahren [4], ein Mann mit 14 Jahren heiratsfähig waren, ist es ab dieser Grenze unmöglich, mit dem gegenwärtigen Begriff von Kindesmissbrauch zu operieren. Es lässt sich in der ganz überwiegenden Mehrzahl der Quellen einfach nicht bestimmen, von 'Kindern' welchen Alters sie faktisch handeln. Zumeist geht es gerade in den normativen Texten ohnehin ganz grundsätzlich um Sodomie - ohne Spezifizierung des Alters (s. z.B. 52f.). Bei den narrativen Quellen, die jemandem sexuelle Vergehen vorwerfen, kann natürlich stets gezweifelt werden, inwieweit es sich nicht nur um Verleumdungen handelte.

Dennoch ergibt sich durch die Summe der Nachweise ein überzeugendes Bild verbotener, aber von Priestern und Religiosen häufig praktizierter gleichgeschlechtlicher Sexualität, die fast stets ohne weiterreichende Konsequenzen blieb, ein finsteres Bild, wie es nicht einmal in einer kritischen Kirchengeschichte eines protestantischen oder akonfessionellen Autors zu finden ist, aber alles andere als bloß eine leyenda negra.

Es ist kein großes Risiko vorherzusagen, dass demnächst einige mediävistische Publikationen zu dem Thema "The Corrupter of Girls" erscheinen werden. Mögen sie der fachlichen Qualität des wichtigen Buches von Dyan Elliott gleichkommen.


Anmerkungen:

[1] Meines Wissens ist Peter Dinzelbacher: Pädophilie im Mittelalter, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs. Zeitschrift der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 8 (2018), 5-38 die einzige zusammenfassende Darstellung.

[2] Diese Quelle sollte besser in der kommentierten Edition von Edoardo D'Angelo, Alessandria 2001 benutzt werden.

[3] Nicht Sklavin: "... inexperto libera servitio", in: Opere di Decimo Magno Ausonio, a cura di Agostino Pastorino, Torino 21995, 610.

[4] Walther v. Hörmann: Die Desponsatio impuberum, Innsbruck 1891, 33f., 37 u. ö.

Peter Dinzelbacher