Rainer Möhler: Die Reichsuniversität Straßburg 1940-1944. Eine nationalsozialistische Musteruniversität zwischen Wissenschaft, Volkstumspolitik und Verbrechen (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe B: Forschungen; Bd. 227), Stuttgart: W. Kohlhammer 2020, LXXXVI + 1047 S., ISBN 978-3-17-038098-1, EUR 88,00
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Das ist ein Buch, das mit seinen insgesamt weit über 1100 Seiten einen wahrhaft langen Atem erfordert! Es handelt sich offenbar - erwähnt wird das nirgendwo! - um eine Saarbrücker Habilitationsschrift, die sich eines Themas annimmt, dessen umfassende Bearbeitung längst überfällig war: der kurzen Geschichte der Straßburger "Reichsuniversität".
Das Wagnis, ein solches Vorhaben in Angriff zu nehmen, wurde dadurch erleichtert, als der Verfasser nicht nur das über zahlreiche deutsche Staats- und Universitätsarchive und die Archives départementales du Bas-Rhin verstreute Aktenmaterial erschließen konnte, sondern auch Zugriff auf die Nachlässe einiger Schlüsselfiguren dieser nationalsozialistischen "Musteruniversität" erhielt, darunter des Rektors Karl Schmidt, des zeitweiligen Dekans Ernst Anrich und der prominenten Professoren Ernst Rudolf Huber und Günther Franz sowie des Kurators Richard Scherberger.
Nach einer Reihe verschieden akzentuierter "Einstiege", von denen der über die Methode und Quellenlage am wichtigsten erscheint, setzt die Analyse der "Institution" Reichsuniversität mit einem "Prolog" über ihre (symbolträchtige) Eröffnung am 23. November 1941 ein, deren Begleitprogramm für den weiteren Weg der neuen Hochschule nicht belanglos war. Es schließen sich vier unterschiedlich umfangreiche Hauptteile an, von denen der Teil B über die Fakultäten mit seinen über 500 Seiten der bei weitem ausladendste ist. In Teil A werden die Konzeptionen für die "Musteruniversität" vorgestellt, ihr schließlicher Aufbau und vor allem die Personen, die hier ihre Ideen von einer nationalsozialistischen Hochschulreform zu verwirklichen suchten. Am rührigsten war der einer Professorenfamilie entstammende und über einen elsässischen Hintergrund verfügende Ernst Anrich, der sich seit Beginn der Vorüberlegungen vor Ort in eine Schlüsselposition zu bringen versuchte, am ehesten die des zukünftigen Rektors. Das misslang zwar, aber Anrich, bei der Partei als jemand, der 1931 förmlich ausgeschlossen worden war, nicht gerade persona gratissima und trotz Unterstützung durch das SD-Hauptamt, den badischen Kultusminister Schmitthenner und die Münchener Reichsdozentenbundsführung von Anfang an umstritten, wuchs als "Beauftragter" der Münchener Dienststelle "für den Neuaufbau der Universität Straßburg" dann doch in den Rang einer Instanz hinein, die quer durch alle Fakultäten eine Art Erstvorschlagsrecht beanspruchte. Sein in vielen Denkschriften niedergelegtes Konzept, diese neue Universität von den "liberalistischen" alten deutschen Hochschulen grundsätzlich abzusetzen, wurde in gewissen Grenzen erreicht: um zur alten "universitas" zurückzukehren, wurden fakultäten- und fächerübergreifende Organismen, also eine Art Zentren ("Großseminare", "Arbeitskreise", "Medizinisches Forschungsinstitut") vorgesehen und als Spiegel der "Ganzkörperschaft" der Universität regelmäßige Vollversammlungen aller Dozenten, und zum anderen die Erhebung der Biologie zum beherrschenden Fach der Naturwissenschaft mit einer entsprechenden Ausstrahlung auch auf alle geistes- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Dass ihn darüber hinaus das Moment der "völkischen Rückgewinnung des Elsass" nachhaltig beschäftigte, unterstreichen viele seiner Personalvorschläge, bei denen die regionale Herkunft der Kandidaten immer wieder thematisiert wurde.
Aber das Schicksal seiner Personalvorschläge für die Professuren zeigt zum einen, wie allenfalls begrenzt er sich durchsetzen konnte, und zum anderen, wie viele Funktionsträger von Staat und Partei sich hier gegenseitig beharkten - hier die badischen und die Berliner Ministerien, dort die NS-Wissenschaftsorganisationen, das SD-Hauptamt und der Stab Heß, um nur einige zu nennen - und mehr als einmal gegenseitig blockierten. Für das Amt des Rektors beispielsweise wurden wenigstens zwei Handvoll Kandidaten vorgeschlagen, die bis auf den Bonner Ophthalmologen Karl Schmidt ausnahmslos zwischen die Räder der Instanzen gerieten.
Dasselbe Spiel wiederholte sich (Teil B), als es um die ersten Dekane der Fakultäten und die Professoren ging: Die verschiedensten Instanzen, die Besetzungslisten vorlegten und Protektion und "Kameradschaft" auszuüben suchten, versuchten mitzumischen. Anrich "baute" dabei auf seine Bonner Verbindungen und seinen heterogenen Freundeskreis, andere Gremien orientierten sich eher am Lehrkörper der (badischen) Universität Heidelberg oder dem der Kieler "Stoßtruppuniversität" - es ging ja immerhin um projektierte 129, später aufgrund von Haushaltskürzungen um 99 Professorenstellen, was die besonders "gefragten" Universitäten wiederum auf den Plan rief, um ihre "Ausräuberung" zugunsten von Straßburg zu verhindern. Viele bereits weit vorangetriebene Berufungen scheiterten deswegen manchmal auch noch in letzter Minute oder fielen Spardiktaten zum Opfer. Und die persönlichen Schicksale hatten es in sich: Ein Rechtshistoriker, der 1942 berufen wurde und an der Ostfront fiel, bevor er u.k. gestellt werden konnte, ein Althistoriker, dem Gleiches wiederfuhr, dessen Nachfolger, der nach dem 20. Juli 1944 in Sippenhaft genommen und in ein KZ eingeliefert wurde.
In der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät liefen, nachdem die Grundsatzentscheidung, keine eigene Volkswirtschaftliche Fakultät ins Leben zu rufen, gefallen war, die Berufungen relativ problemlos, wobei der Rückgriff auf die "Kieler Schule" augenfällig war. Aber das heißt nicht, dass die Lehrstuhlinhaber ausnahmslos stramme Nationalsozialisten waren; der Magdeburger Versicherungsmanager Ludwig Raiser, seit 1942 Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht, und der Betriebswirt Kirsch sind schlagende Beispiele dafür, was selbst in Straßburg möglich war.
Die Naturwissenschaftliche Fakultät wurde dezidiert biologisch-nationalsozialistisch ausgerichtet und zugleich in starkem Maß in sogenannte "kriegswichtige" Forschungen eingebunden. Sie stand von Anfang an im Spannungsfeld von "Deutscher Physik" einerseits und den Anhängern der "Allgemeinen Relativitätstheorie". Insgesamt hatten die nach dort berufenen Professoren wohl eine typische "völkisch-nationalsozialistische Karriere" vorzuweisen, aber auch hier bestätigen Ausnahmen die Regel: der Theoretische Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker ist eine von ihnen.
Die völkisch-nationalsozialistische Ausrichtung des Lehrkörpers gilt in noch stärkerer Ausprägung für die Medizinische Fakultät, bei der Möhler sich mit guten Gründen besonders intensiv mit den grauenerregenden Menschenversuchen und Vergasungen in einem im Elsass gelegenen KZ beschäftigt. Einen besonderen Akzent legte er hier - und an einer späteren Stelle (D III) - den juristischen Aufarbeitungen der damaligen Verbrechen zu, die wahrlich kein Ruhmesblatt der bundesrepublikanischen Justiz darstellten. Nicht alle Verantwortlichen konnten noch belangt werden; einer der Haupttäter, der in Auschwitz "bestellte" jüdische Häftlinge zwecks Aufbaus einer anatomischen Skelettsammlung kurzerhand vergasen ließ, entzog sich der Justiz durch seinen Freitod.
Möhler ist in diesem Teil der Studie zu den Fakultäten und dem Lehrkörper als einer völkisch-nationalsozialistischen "Kameradschaft" nicht nur den wissenschaftlichen und Partei-Karrieren der Hochschullehrer - und übrigens auch der Assistenten - nachgegangen, sondern auch ihren oft erstaunlich problemlosen "Nachkarrieren" nach dem Zusammenbruch des 'Dritten Reiches': bei den Mitgliedern der Philosophischen Fakultät oft bemerkenswert schnell von einem Lehrstuhl zum nächsten, manchmal nach Verstreichen einer Schamfrist, hin und wieder auch nach einem Interludium an einer Schule, bei den Juristen und Staatswissenschaftlern und Naturwissenschaftlern gelegentlich über eine Tätigkeit in der Privatwirtschaft oder im Ausland, bei den Medizinern häufiger über einen befristeten Rückzug in eine Privatpraxis.
In Abschnitt C ("Raum und Akteure") geht Möhler den Maßnahmen der deutschen Stellen um die "Liquidierung" der nach Clermont-Ferrand ausgelagerten "Université de Strasbourg" nach, den Bemühungen, die elsässischen Studierenden an die neue Reichsuniversität zu ziehen (wo sie häufig dann gleich in den Krieg geschickt wurden), und dem "Ort" der Reichsuniversität in ihrem elsässischen Umfeld mit dem Ziel seiner Germanisierung. Das Vorgehen der deutschen Stellen gegen eine kleine studentische Oppositionsgruppe, die sich vor allem gegen die Zwangsrekrutierungen elsässischer Studenten wandte, zeigt, wie brutal und menschenverachtend der NS-Staat und sein juristisches Aushängeschild Roland Freisler gegen angebliche "Zersetzer" vorzugehen in der Lage war.
In einem "Epilog" (Abschnitt D) verfolgt Möhler schließlich die "lange Nachgeschichte" der Reichsuniversität Straßburg, ihr unrühmliches Ende, die beruflichen Karrieren der Protagonisten nach 1945 unter dem Stichwort "Elitenkontinuität", wendet sich dem "Auffangbecken" der Anrichschen Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (illustrativ die Tabelle 49!) und der Erinnerung an die Reichsuniversität zu, für die unter anderem der "Freundeskreis" der Straßburger zuständig war, der sich, in den frühen 1950er Jahren in zunehmend kleinerer Besetzung, mehrfach trat, ehe er sich 1970 auflöste und das Vermögen treuhänderisch der DFG überantwortete mit der Maßgabe, es für die Finanzierung der Arbeiten ehemaligen Straßburger Hochschullehrer zu verwenden.
Wie eingangs bemerkt: man braucht einiges an Sitzfleisch, um dieses gewaltige opus zu bewältigen, das die Geschichte dieser kurzlebigen Einrichtung nach allen Seiten hin erschöpfend wissenschafts-, institutionen- und sozialgeschichtlich aufarbeitet. Es ist die (im Übrigen mit vielen Tabellen und Diagrammen unterfütterte und auch mit sprechenden Abbildungen angereicherte) Gesamtgeschichte, die man sich erhoffte und die überfällig war. Es kann bei diesem Umfang freilich nicht ausbleiben, dass es zu sehr vielen Wiederholungen kommt; die wichtigsten Protagonisten werden in unterschiedlichen Positionen behandelt, etwa als Dekane und als Lehrstuhlinhaber, und das führt, da das Quellenmaterial ja das gleiche bleibt, fast zwangsläufig zu Duplizierungen. Der Verfasser hat es sich nicht nehmen lassen, auch diejenigen Personen, die irgendwann einmal von dritter Seite als Kandidaten für Stellen genannt wurden, ohne erfolgreich zu sein, mit großer Ausführlichkeit und mit Einschluss der "Nachkarrieren" vorzustellen; vielleicht ist hier dann doch des Guten ein wenig zu viel getan worden. Vielleicht hätte man auch noch etwas mehr über das Bild der "Reichsuniversität" im heutigen Straßburg und Frankreich sagen können. Der Vergleich mit der "anderen" Reichsuniversität (Posen) muss der weiteren Forschung überlassen bleiben. Dass eine ganze Reihe Druckfehler stehengeblieben ist und der Verfasser zudem unübersehbare Probleme mit der indirekten Rede hat, will ich nicht unterschlagen. Auch von Neologismen wie dem ärgerlichen "nichtsdestotrotz" kann er sich nicht freimachen. Zudem ist einige Literatur, nicht nur solche, die bis Anfang 2018 erschienen war, nicht mehr berücksichtigt worden.
Aber diese Ausstellungen sollen die Anerkennung der Leistung des Verfassers und die Freude über eine wissenschaftsgeschichtlich bedeutende Schrift, die eine empfindliche Lücke schließt, nicht beeinträchtigen.
Anmerkung der Redaktion:
In der ursprünglich veröffentlichten Fassung dieser Besprechung bedauerte der Rezensent, dass der Nachlass Hermann Heimpel nicht mehr herangezogen wurde, der seit Ende 2018 entsperrt sei. Irrtümlich wurde hierbei angenommen, dass das Buch erst im März 2021 erschienen sei. Das Buch wurde jedoch bereits im März 2020 publiziert. Der betreffende Satz wurde korrigiert.
Heinz Duchhardt