Anja Ballis / Markus Gloe (Hgg.): Holocaust Education Revisited. Wahrnehmung und Vermittlung, Fiktion und Fakten, Medialität und Digitalität, Heidelberg: Springer-Verlag 2019, XV + 436 S., E-BOOK, ISBN 978-3-658-24205-3, EUR 46,99
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Vom 22. bis zum 25. Februar 2018 fand an der Ludwigs-Maximilians-Universität München die interdisziplinäre Konferenz "Nähe und Distanz: 'Holocaust Education Revisited'" statt, die vom Projektteam des gleichnamigen Forschungsprojektes organisiert worden war. [1] Bei dem hier vorgestellten Buch handelt es sich um den ersten von zwei Tagungsbänden, der auch als Eröffnungsband der von Anja Ballis, Michele Barricelli und Markus Gloe herausgegebenen Reihe "Holocaust Education - Historisches Lernen - Menschenrechtsbildung" fungiert; diese soll "inter- und transdisziplinär die beiden Ansätze von Holocaust Education und Menschenrechtsbildung" (II) verbinden. Das Forschungsprojekt nimmt auf empirischer Basis die Vermittlungsarbeit zu Holocaust und NS-Verbrechen, insbesondere die unterschiedlichen Akteure und Akteurinnen in unterschiedlichen Institutionen der Vermittlung (wie Schulen, Museen, KZ-Gedenkstätten), in den Blick. Alte Konzepte der Holocaust Education sollen damit erneut aufgegriffen und neue Konzepte erarbeitet werden. [2] Der Band enthält Beiträge in englischer und deutscher Sprache aus drei der fünf Themenschwerpunkte der Tagung: "Wahrnehmung und Vermittlung", "Fakten und Fiktion" sowie "Medialität und Digitalität"; die Beiträge der Sektionen "Orte der Vermittlung" und "Didaktik und Nachhaltigkeit" finden sich im zweiten Tagungsband. [3] Die Tagung wie die beiden Bände spiegeln die Notwendigkeit, angesichts des Endes der Zeitzeugenschaft neue und alte Medien und Methoden der Vermittlung zum Holocaust zu reflektieren.
Die Tagung zielte auf eine Bestandsaufnahme von Konzepten der Holocaust Education der Gegenwart; die Beiträge, die häufig auf empirischer Grundlage entstanden sind, zeigen daher die Diversität der Ansätze und die Internationalität, sowie die Interdisziplinarität der Holocaust Education. Angesprochen werden Vermittlungsprozesse in unterschiedlichen Umgebungen und durch unterschiedliche Akteure und Akteurinnen (zum Beispiel Guides an Gedenkstätten, Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen, Radiojournalisten und Radiojournalistinnen und vor allem auch Zeitzeugen und Zeitzeuginnen); es geht um Fragen der internationalen Erinnerungskultur, um neue und alte Inhalte, vor allem um die Medien der Vermittlungsarbeit und um methodische Zugänge. Insbesondere Beispiele aus dem Bereich Neue Medien werden untersucht und auf ihren didaktisch-pädagogischen Gehalt überprüft. Auch werden Probleme einer Instrumentalisierung des Holocaust für edukative Zwecke angesprochen. Angesichts der Vielfalt der Themen und des Umfangs des Buches (436 Seiten) können hier nur einzelne Beiträge vorgestellt werden.
Im Einführungsteil des Bandes verweisen Anja Ballis und Michael Gloe auf die Breite der Holocaust Education sowie auf die Zielsetzungen des Forschungsprojektes. Ihre Theorie der "Losigkeit" stellt einen interessanten gedanklichen Ausgangspunkt für die "Erschließung" der Gewaltverbrechen des Nationalsozialismus dar, der als "Lücke, Leere ("Void")" in Vermittlungskontexten gekennzeichnet wird. Demnach müssen didaktisch-pädagogische Zugänge zum Holocaust die Sinn-, Sprach-, Zeit- und Gefühl-Losigkeit berücksichtigen und unter anderem die nicht vorhandene Sinnhaftigkeit des Holocaust oder die Schwierigkeiten des Sprechens über den Holocaust beachten (3-20). Daran anschließend arbeitet Oliver Plessow wichtige Entwicklungen der Holocaust Education seit Ende des Kalten Krieges heraus und kommentiert übergreifende Aspekte (21-42).
Wie schnell Veränderungen in der politischen Kultur eines Landes die Vermittlung zum Holocaust an den Hochschulen beeinflussen können, verdeutlicht Sandra Alfers, die als Folge der politischen Entwicklung in den USA unter Trump neue Schwerpunktsetzungen und einen stärkeren Gegenwartsbezug in der Lehre feststellte (45-62).
Die Lehrkräfte und ihr Handling des Holocaust stehen im Zentrum der empirischen Untersuchungen von Daniel Münch (87-108) sowie Holger Knothe und Mirko Broll (123-140). Die Beiträge machen in ihrer unterschiedlichen Akzentuierung den schwierigen Umgang mit Emotionen beziehungsweise mit der emotionalen Betroffenheit der Schüler und Schülerinnen durch Lehrkräfte deutlich und zeigen an Beispielen auf, wie Emotionen einer kritisch-reflektierten Auseinandersetzung der Schüler und Schülerinnen mit dem Holocaust im Wege stehen können. Lehrkräfte haben, so Knothe und Broll, "Routinen der Vermittlung" entwickelt, um Schüler und Schülerinnen zu einem "Lernfortschrift im Sinne der Erziehung zur Mündigkeit" zu verhelfen (136).
Das nahe Ende der Zeitzeugenschaft zum Holocaust wird in didaktisch-methodischen Überlegungen einiger Autoren und Autorinnen aufgegriffen. Gemeinsam ist ihnen ein biografischer Zugriff. Mark Zaurov stellt eine DVD vor, auf der er Material über gehörlose Juden und Jüdinnen, aber auch gehörlose Nationalsozialisten zum Gebrauch in einem inklusiven Unterricht zusammengestellt hat (167-190). Daniel Hoffmann hält Vorträge über die Lebensgeschichte seines Vaters und reflektiert in seinem Beitrag seine sekundäre Zeitzeugenschaft (191-205ff). Andreas Sommer lotet am Beispiel der Verfilmung des Schicksals eines jüdischen Jungen, der eine andere Identität als Katholik annahm, aus, inwieweit an diesem Beispiel Identitätsbildungsprozesse in einer heterogenen Einwanderungsgesellschaft sowie Menschenrechtsbildung gefördert werden können (223-240). Auf die Komplexität des Einsatzes von digitalen Zeitzeugeninterviews verweist Christina Brüning in ihrem Beitrag (391-402). Anja Ballis, Michele Barricelli und Markus Gloe stellen ihr Forschungsprojekt vor, das Entstehung, Entwicklung und Einsatz von Hologrammen untersucht und einen wichtigen Beitrag zur Beurteilung dieses neuen Mediums leisten wird (403-436).
Der Tagungsband macht die Vielfalt möglicher Herangehensweisen an die NS-Verbrechen im Rahmen einer Holocaust Education deutlich. Diese Vielfalt jedoch zeigt die Notwendigkeit für eine "Theorie der Vermittlung" auf, wie sie das Münchner Forschungsprojekt anstrebt (vergleiche unter [2]), wie für eine stärkere Verankerung der Holocaust Education in der Lehrerbildung. Denn die Ausbildung von "Routinen", auf die Knothe und Broll hinweisen, braucht in einem Dickicht von Möglichkeiten und Ansprüchen mehr Unterstützung.
Anmerkungen:
[1] Tagungsberichte: Michael Penzold: Bericht zur Tagung an der LMU München, 22.-25.2.2018, Nähe und Distanz: Holocaust Education Revisited, o.D., URL https://www.holocaust.didaktik.germanistik.uni-muenchen.de/tagungsdoku-holo/naehe_distant_penzold.pdf (zuletzt aufgerufen am: 27.9.2021); Jeanne Flaum: Nähe und Distanz: Holocaust Education Revisited, 26.02.2018, URL https://www.holocaustliteratur.de/deutsch/Naehe-und-Distanz-Holocaust-Education-Revisited/ (zuletzt aufgerufen am: 27.9.2021).
[2] Zum Forschungsprojekt: https://www.holocaust.didaktik.germanistik.uni-muenchen.de/startseite-baukasten/index.html (zuletzt aufgerufen am: 27.9.2021).
[3] Anja Ballis / Michael Gloe (Hgg.): Holocaust Education Revisited. Orte der Vermittlung - Didaktik und Nachhaltigkeit, Wiesbaden 2020.
Anette Hettinger