Philip Ajouri: Policey und Literatur in der Frühen Neuzeit. Studien zu utopischen und satirischen Schriften im Kontext Guter Policey (= Frühe Neuzeit. Edition Niemeyer; Bd. 218), Berlin: De Gruyter 2020, 618 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-3-1105-7287-2, EUR 99,95
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Während 'Polizei' erst seit dem 19. Jahrhundert nur noch die beamteten Ordnungshüter, also Vertreter einer zentralen Institution der Exekutive bezeichnet, meinte das Wort in den Jahrhunderten davor ausschließlich diese Institution selbst, die durch entsprechende Gesetze die Ordnung zum Zweck des 'Wohlstandes' der Obrigkeit, des Staates und seiner Bürger zu sichern hatte. Dabei differenzierte sich der Begriff vom 14./15. Jahrhundert an europaweit zunehmend aus. Der engeren (und älteren) Bedeutung des Begriffs 'Policey' und 'Policeyordnung' als durch Erlasse geregelte Staatsadministration steht bald eine weitere Bedeutung gegenüber: als "die obrigkeitliche Regelung des inneren Lebens" eines Staates, als 'Gute Policey' im Sinne der Wohlfahrt seiner Bürger bis hin zur "Beförderung der Glückseligkeit" in der Terminologie der im 18. Jahrhundert akademisierten und an den Universitäten etablierten 'Policeywissenschaft'.
Philip Ajouri hat sich in seiner umfangreichen Studie das Ziel gesetzt, Literatur, oder vielmehr frühe Schriften der Gattung Utopie, die in der Frühen Neuzeit zunächst noch als Bestandteil der menippeischen Satire verstanden wurde, im Kontext der Policey jeweils ihrer Zeit zu untersuchen, und so, wie das hier geschieht, eignet der Studie dadurch ein Doppelcharakter: Gegenstand sind sowohl die Policey in ihrem "semantischen, gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Wandel" (1) als auch exemplarische Werke der Utopie. Beide Seiten, beide Textbereiche also werden beständig aufeinander bezogen, je nach den betreffenden Texten, Themen und Autoren vergleichend, kontrastiv, auch um wechselseitiger Erläuterungen willen, und es gehört nicht zu den geringsten Nutzeffekten dieser Kontextualisierung von Literatur, dass es Ajouri immer wieder gelingt, aufzuzeigen, wie sehr bestimmte Wertbehauptungen und Handlungen in einer utopischen und/oder satirischen Erzählung ohne die Wahrnehmung des zeitgenössischen Policeywesens gar nicht verständlich sind. Diese Untersuchung erbringt in der Tat den äußerst detaillierten und jederzeit fundierten Aufweis der sich verändernden Relation dieser beiden Seiten aufeinander: von einer unmittelbaren Partizipation utopischer Texte in der Reformationszeit am tagespolitischen Geschehen "noch im Rahmen von Suppliken, Klagen und Bittschriften an die Obrigkeit" (2) über zunehmende Distanz, kritische, auch ironische, satirische, in den folgenden Jahrhunderten bis zu Positionen eines eigenständigen Beobachters der Verwaltung und Politik sowie der Diskurse darüber, der auch in der Lage ist, mit eigenen, auch alternativen Konzepten und Normen aufzuwarten - nichts anderes ist mit der abstrakten Rede von der Ausdifferenzierung der sozialen Systeme Politik, Kunst/Literatur, Religion in der Frühmoderne gemeint, die dem Leser in diesem Buch einmal in der ausführlichsten Konkretheit vorgeführt wird. Ajouri positioniert sich mit dieser systematisch verfolgten Beziehung von Literatur auf gesellschaftliche Probleme denn auch ausdrücklich in der Nähe einer sozialgeschichtlichen und in diesem Sinn empirischen Literaturwissenschaft, und der beschriebene Doppelcharakter seiner Studie zeitigt einen weiteren methodischen Vorzug: die Vermeidung des heute so inflationär gebrauchten "allgemeinen und unspezifischen" Diskursbegriffes, "der Literatur a priori in den Diskurs der Policey einsortiert (oder sie nur insoweit beachtet, als sie darin aufgeht)" (2). Auf weitere Qualitäten seines Verfahrens: die gelungene Anlage der Untersuchung, ihren Detailreichtum und die Fülle der erzielten Ergebnisse vorausblickend, darf man wohl feststellen, dass Ajouri damit endlich einem bedeutenden Forschungsdesiderat abhelfen konnte, das seit Jahrzehnten immer wieder angemahnt worden ist. [1]
Die Studie umfasst 7 Kapitel. Die Einleitung, zugleich Kapitel 1, wird ihrem Namen in einer Weise gerecht, wie man das selten lesen kann. Nachdem man schon auf den ersten drei Seiten klar und prägnant über Absichten und zu erwartende Ergebnisse unterrichtet wird, folgt eine kompakte Einführung in die wichtigsten Themenbereiche der Forschung, darunter vor allem die Debatte über Oestreichs 'Sozialdisziplinierung', und durch die ganze Untersuchung hindurch wird die Diskussion der Forschung zu den jeweiligen Teilfragen nebenher verfolgt. Die Kapitel 2 - 6 enthalten den Hauptteil des Buches, in dem die ausgewählten utopischen Werke des deutschen Sprachbereichs aus der Zeit von Thomas Morus (Utopia, 1516) bis ins späte 18. Jahrhundert im Kontext der Policeyordnungen und der jeweiligen Debatten darüber behandelt werden, von denen wir hier nicht viel mehr als die Titel nennen können. Die Untersuchung der für das Thema wichtigsten unter ihnen erfolgt in einer geradezu monographischen Ausführlichkeit. Kapitel 2 befasst sich mit Johann Eberlin von Günzburgs Wolfaria-Schriften von 1521 (mit einer Art Latinisierung von "Wohlfahrt" im Titel), Pamphilus Gengenbachs Von drien Christen (1523), des Basler Juristen Claudius Cantiuncula Widmungsvorrede zu seiner Utopia-Übersetzung von 1524 (jedoch nur von Buch 2) und insbesondere Caspar Stiblins Commentariolus de Eudaemonensium Republica (von 1555). Stiblin, zu dieser Zeit Latein- und Griechischlehrer an der Humanistenschule in Schlettstatt, gilt heute als der erste deutsche Autor einer regelrechten Utopie nach Morus. [2] Im Mittelpunkt von Kapitel 3: "Von der 'Generalreformation' [Boccalini] zum Pietismus", stehen neben einer wenig bekannten Reformschrift August Hermann Franckes: Beschreibung eines verbesserten Fürsten-Staats (1699), und Sinold v. Schütz' Das Land der Zufriedenheit (1723) die kritisch-satirischen Schriften zu einer christlichen Reform von Johann Valentin Andreae, seine lat. Komödie Turbo (1616) [3] und vor allem der utopische Roman Christianopolis von 1619. [4] Kapitel 4 ("Reformation durch Satire - Reformation der Satire") handelt erneut ausführlich vom 17. Jahrhundert und untersucht in erster Linie Werke von Johann Michael Moscherosch: Insomnis cura parentum (1643) sowie die beiden Teile von Die Gesichte Philanders von Sittewald (1650), die Texte des anonymen, fast noch ergiebigeren 'Pseudophilander' werden im 5. Kapitel erstmals ausführlicher vorgestellt, neben Dietrich Reinkingks 'biblischen Policeyen' und Texten des hochinteressanten, in der Forschung seit langem wieder vernachlässigten (und auch von Ajouri hier nicht sonderlich beachteten) Marburger Rhetorikers und Hamburger Pastors und Predigers Johann Balthasar Schupp. [5] Kapitel 6: "Die Zeit der Policeywissenschaft", behandelt Schriften v. Seckendorffs (Deutscher Fürsten-Stat, 1737), v. Loëns (Der redliche Mann am Hofe, 1740), v. Justis (auch dessen zu wenig bekannten politischen Roman Psammiticus, 1759/60), doch neben dem anonymen Staat des [...] Königreichs Ophir (1699) steht das Kapitel dann im Zeichen von Wielands politischem Roman Der Goldne Spiegel, oder die Könige von Scheschian, eine wahre Geschichte (1772), dessen Einschätzung Ajouri um einige wichtige, ausführlich begründete Aspekte ergänzen wie auch korrigieren kann, wenn man von seiner unzureichenden Berücksichtigung des Verhältnisses zu Rousseau absieht. [6] Kapitel 7 schließlich gibt anhand Wilhelm v. Humboldts Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792) einen knappen Ausblick auf das recht abrupte Ende jener von Ajouri in ihrer ganzen Vielgestaltigkeit rekonstruierten 'Affinität' der Literatur, nicht allein der utopischen und politischen, zur Problematik der Policey in Deutschland. Im Zeichen eines konsequenten Individualismus, dessen Genealogie mindestens bis zum Pietismus Franckes um 1700 zurückgeht, der ein großes Thema in diesem Buch ist und sich nun mit 'Bildung' in individueller Freiheit assoziiert hat, ist diese Verbindung zunächst einmal zerbrochen, und Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) wären vielleicht nicht der schlechteste Leitfaden, an dem man verfolgen kann, wie die weitere Geschichte dieses spezifisch 'deutschen' Bruches in das katastrophische 20. Jahrhundert hinein verlaufen ist.
Anmerkungen:
[1] Besonders von Jörg Jochen Berns: Utopie und Polizei. Zur Funktionsgeschichte der frühen Utopistik in Deutschland, in: Literarische Utopie-Entwürfe, hg. von Hiltrud Gnüg, Ffm. 1982 (suhrkamp taschenbuch; 2012), 102-116, sowie ders.: Policey und Satire im 16. und 17. Jahrhundert, in: Simpliciana 13 (1991), 423-441.
[2] Vgl. Herbert Jaumann: Art. Stiblin (Stüblin), Kaspar, in: Killy Literaturlexikon, Bd. 11 (2011), 259-261, sowie Jörg Jochen Berns: Caspar Stiblins Macaria-Utopie und die utopische Satiretradition des Oberrheins, in: Simpliciana 22 (2000), 129-143.
[3] Vgl. die Neuausgabe, die Ajouri nicht mehr berücksichtigen konnte: Turbo, sive moleste et frustra per cuncta divagans ingenium (1616), hg., übersetzt und kommentiert von Herbert Jaumann, Stuttgart-Bad Cannstatt 2018 (Gesammelte Schriften; Band 8).
[4] Ebenso unberücksichtigt die Neuausgabe in dem Band: Reipublicae Christianopolitanae descriptio (1619) / Christenburg. Das ist: ein schön geistlich Gedicht (1626), bearbeitet, übersetzt und kommentiert von Frank Böhling und Wilhelm Schmidt-Biggemann, Stuttgart-Bad Cannstatt 2018 (Gesammelte Schriften; Band 14).
[5] Vgl. die Art. über Schupp von Herbert Jaumann in: Killy Literaturlexikon, Bd. 10 (2011), 643-648, und in NDB Bd. 23 (2007), 757-759.
[6] Vgl. Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel [...] und andere politische Dichtungen, hg. von Herbert Jaumann, München 1979, sowie Walter Erhart: "Was nützen schielende Wahrheiten?" Rousseau, Wieland und die Hermeneutik des Fremden, in: Rousseau in Deutschland, hg. von Herbert Jaumann, Berlin, New York 1995, 47-78.
Herbert Jaumann