Dóra Vargha: Polio Across the Iron Curtain. Hungary's Cold War with an Epidemic (= Global Health Histories), Cambridge: Cambridge University Press 2021, XII + 254 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-1-108-43101-9, GBP 75,00
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Der Kampf gegen die Polio-Viren ist eines der faszinierendsten Kapitel der Geschichte des frühen Kalten Krieges und der Medizinhistorie zugleich. Die infektiologischen Ausnahmesituationen der 1950er und 1960er Jahre stellten die Regierungen diesseits und jenseits des "Eisernen Vorhanges" vor veritable Herausforderungen. Rasch setzte zudem - über die Systemgrenzen hinweg - ein Wettlauf um einen sicheren und verträglichen Impfstoff ein. Aber wie beeinflusste der Ost-West-Konflikt die Reaktionen der Staaten und Gesellschaften auf "Polio" und die Suche nach einem Impfstoff?
2005 beschrieb David Oshinsky in Polio: An American Story die Genese der beiden einzigen seinerzeit verfügbaren Impfstoffe - beide "made in USA" [1]. Auf der einen Seite das zu injizierende Präparat auf Basis "toter" Polio-Viren, entwickelt von Jonas Salk; und auf der anderen der "Lebend-Impfstoff" von Albert Sabin, der per Schluckimpfung verabreicht wurde. Obwohl Oshinsky die inneramerikanischen Konflikte der Entwicklung beider Impfstoffe darlegte, blieb seine Untersuchung weitergehende Antworten auf die Frage schuldig, welche Rolle Moskau bei der amerikanisch-sowjetischen "Forschungskooperation" zur Entwicklung von Polio-Impfstoffen gespielt hatte. Dass eine solche Zusammenarbeit in den 1950er Jahren zustande kam, wurde bereits zeitgenössisch als eine besondere Facette des Kalten Krieges wahrgenommen. Untersuchungen über die Involvierung des Ost-Blocks im Falle von Polio während des Kalten Krieges fehlen jedoch. Auch die soliden Betrachtungen der Polio-Politiken im Kalten Krieg innerhalb von Überblicksarbeiten widmen sich vorrangig dem Westen [2].
Dóra Vargha, Professorin für "Medical Humanities" an der Universität Exeter, unternimmt den Versuch, auf breiter Quellenbasis die Reaktion auf die Polio-Impfstoffe am Beispiel der Volksrepublik Ungarn darzustellen. Für ihre gut 200 Seiten starke Studie, die 2021 als Paper-Back-Edition erschien, hat Vargha nicht nur eine Vielzahl ungarischer Bestände (von Ministerien bis hin zu Unterlagen von Organisationen Polio-Geschädigter) gesichtet, sondern auch Quellen der Weltgesundheitsorganisation, des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz und des Sabin-Archives in den Vereinigten Staaten.
Ihr Anspruch ist es, einerseits der Frage nachzuspüren, weshalb ausgerechnet Ungarn nur wenige Monate nach dem niedergeschlagenen Aufstand im Sommer 1956 vom Kreml die Erlaubnis erhielt, dringend benötigte US-Impfstoffe zu importieren; andererseits will sie über die Ost-West-verschränkte Polio-Politik am Beispiel Ungarns zeigen, wie durchlässig die scheinbar ideologisch-dogmatisch festbetonierten Grenzen im Kalten Krieg waren: "Polio shaped and overrode Cold War policies and forged unlikely alliances" (17). Vargha bewegt sich mit diesen Ansprüchen klar auf Höhe neuester Forschungen zum Kalten Krieg, in denen die vermeintlich starren Block-Logiken hinterfragt und das Agieren "peripherer" Akteure aufgezeigt wird [3].
Innerhalb ihrer sechs Kapitel - die allgemeine Informationen über Polio, erste ungarische transnationale Kooperationen im Medizinbereich und die Stadien der Impfstoffforschung rekapitulieren - wird Vargha jedoch den selbstformulierten Ansprüchen nur bedingt gerecht. Trotz einer Vielzahl neuer Quellen gerät das Gesamtbild der Studie argumentativ-logisch in Schieflage. Dies vornehmlich aus zwei Gründen:
Im Verlauf ihrer Darstellung tritt bei Vargha mehr und mehr in den Hintergrund, dass es sich bei dem auch in Ungarn verwendeten Sabin-Impfstoff um kein sowjet-sozialistisches, sondern um ein amerikanisches Präparat handelte. Auch bedingt durch fehlenden Zugriff auf russische Akten scheitert Vargha daran, die - dennoch subtil formulierte - konkrete Forschungsleistung Moskaus am Vakzin aufzuzeigen. Ihr in einer Fußnote formulierter Einwand gegen David Oshinskys Buch wirkt in diesem Sinne doppelt unbeholfen: Zwar habe Oshinsky Recht, wenn er vom Polio-Impfstoff "Made in USA" schreibe, aber - so Vargha: "While I am not debating here the important role of polio in American politics, culture and public health, I wish to broaden the spectrum of a history of polio vaccines and argue that especially in the case of the Sabin vaccine, polio research and vaccine development quickly became a global project with universal goals" (147).
Belege für ein solches humanistisch-idealisierendes Fazit bleibt Vargha hingegen schuldig. Im Gegenteil: Ihre eigenen Befunde konterkarieren es. So, wenn sie resümiert, die Entscheidung Moskaus für einen ungarischen Import des Sabin-Impfstoffes sei Kalkül gewesen. Der Kreml suchte in Ungarn nach Versuchsobjekten einer wissenschaftlich in den USA noch nicht als hinreichend sicher geltenden Massenanwendung - und zwar aus dem Interesse heraus, Zugriff auf dringend notwendige amerikanische Präparate zu erlangen. Darüber hinaus führt Vargha zahlreiche interessante und wichtige Einzelaspekte an, die allesamt die innersozialistische Konkurrenz, u. a. zwischen Budapest, Prag und Ost-Berlin, um die Einführung des (amerikanischen) Sabin-Impfstoffs belegen, und damit die für die Fragestellung nach stärkerer Differenzierung des anscheinend monolithischen "Ost-Blocks" wichtigsten Bausteine liefern. Vargha fügt sie indes nicht in ein Gesamtbild ein. Die Motive hinter der Polio-Politik der einzelnen sozialistischen Staaten waren weder "brüderlich" noch von "universellen" Werten dominiert, sondern einzig von Machtpolitik - wie Vargha partiell und in Nebensätzen auch richtig formuliert.
Ihr Buch bleibt aber vor allem deshalb inkonsistent, weil Dóra Vargha über den eigentlichen Coup schweigt: die sowjet-sozialistische antiwestliche Propagandapolitik mit dem amerikanischen Sabin-Impfstoff. Nachdem die von Moskau in den Ost-Block-Staaten zugelassenen Impfstofftests des Sabin-Präparates erfolgreich verlaufen waren, kaperte man die Deutungshoheit und deklarierte das Präparat als sozialistische Erfindung. Und während etwa in der Bundesrepublik aufgrund anderer wissenschaftlich-ethischer Standards noch keine Zulassung für das amerikanische Präparat Sabins vorlag, überzog die DDR die Bonner Republik Anfang der 1960er Jahre mit einer Propagandakampagne - um die Vorzüge des "sozialistischen" Wundermittels zu betonen, das doch bitte dringend eingeführt werden solle, damit der westdeutsche Staat endlich seine Rückständigkeit aufholen könne. Eine bizarr-paradoxe Ironie in Manier des Kalten Krieges: Ziel war die politische Destabilisierung des Westens, erreicht durch eine Instrumentalisierung des Erfolgs eines eigentlich amerikanischen Impfstoffes.
Diesen Propaganda-Coup, die innersozialistische Rivalität im Ringen um einen wirksamen (amerikanischen) Impfstoff, aber auch die amerikanischen Motive hinter der erlaubten Forschungskooperation mit dem Ost-Block - all dies blendet Dóra Vargha entweder aus oder betrachtet es nicht hinreichend tiefgründig und konsequent analytisch. Auch wenn ihr Buch in vielen Urteilen zu kurz greift, zeigt es doch das große Potenzial einer vergleichenden Geschichte von "Polio im Kalten Krieg" - die auch dann geschrieben werden kann, wenn russische Archive für die Wissenschaft nicht zur Verfügung stehen. Denn beispielsweise in Deutschland, den USA, Ungarn, Polen, Tschechien, dem Baltikum, bei der WHO oder dem Roten Kreuz sind die Akten zugänglich.
Anmerkungen:
[1] Vgl. David M. Oshinsky: Polio. An American Story, New York 2005.
[2] Vgl. entsprechend bei Ulrike Lindner: Der Umgang mit neuen Epidemien nach 1945. Nationale und regionale Unterschiede in Europa, in: Malte Thießen (Hg.): Infiziertes Europa. Seuchen im langen 20. Jahrhundert, München 2014, 115-136; dies.: Gesundheitspolitik in der Nachkriegszeit. Großbritannien und die Bundesrepublik im Vergleich, München 2004, und Malte Thießen: Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2017.
[3] Vgl. u. a. Odd Arne Westad: The Cold War. A World History, New York 2017.
Lutz Kreller