Florian Bruns: Kranksein im Sozialismus. Das DDR-Gesundheitswesen aus Patientensicht 1971-1989 (= Kommunismus und Gesellschaft; Bd. 12), Berlin: Ch. Links Verlag 2022, 274 S., ISBN 978-3-96289-167-1, EUR 25,00
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Dass Menschen zusätzlich gestraft waren, die im Real-Sozialismus des SED-Regimes auch noch krank wurden, war bereits vor der Studie von Florian Bruns bekannt. Auch wenn die Medizingeschichte des ostdeutschen Teilstaates zu den gut erforschten Feldern der DDR-Geschichte zählt, kann Bruns eine Lücke schließen und bislang unerforschtes Terrain vermessen: Er widmet sich den "Eingaben" im Bereich des Gesundheitswesens in der Ära Honecker.
Die "Eingabe" war im kommunistischen Rechtsmodell der Ersatz des hergebrachten Verwaltungsrechts, eben weil das kommunistische Recht weder Gewaltenteilung noch Rechtsstaatlichkeit oder den originären Schutz individueller Rechte kannte. Recht war für die SED kein Instrument zur Begrenzung politischer Macht, sondern wurde machtpolitisch instrumentalisiert, um repressiv und totalitär eine Weltanschauungsideologie durchzusetzen. Nur vor diesem Hintergrund kann eine adäquate Untersuchung von "Eingaben" als historischen Quellen betrieben werden, wie etwa auch Felix Mühlbergs Studie zum "Eingabewesen" aus dem Jahr 2004 zeigt. [1] Denn das Spannungsfeld zwischen "Bürger, Bitten und Behörden" war sehr facettenreich und ambivalent. Die besondere Rolle der "Eingabe" lief im systemischen Vergleich mit der westdeutschen Demokratie eben nicht auf die einer Petition hinaus. Dieser Umstand wird etwa auch daran deutlich, dass der erste DDR-Innenminister persönlich "Eingaben" massenhaft dadurch beantwortete, dass er die Personen, die diese unliebsamen und störenden Mitteilungen verfasst hatten, dem Ministerium für Staatssicherheit meldete - nur weil sie ein in der Verfassung verankertes angebliches Recht wahrgenommen hatten. Wie wichtig die "Eingabe" als historische Quelle ist (aber zugleich quellenkritisch zu betrachten und zu kontextualisieren bleibt), haben unzählige Arbeiten vor allem mit Blick auf das "Eingabewesen" im Bereich der Mangelwirtschaft des SED-Regimes aufgezeigt.
Florian Bruns ist ausgebildeter Mediziner und Historiker. Mit seinem Buch liegt nun die überarbeitete Fassung seiner Habilitationsschrift vor. Der Autor ermittelte zunächst stichprobenartig 600 "Eingaben" aus den Beständen des DDR-Gesundheitsministeriums, der Abteilung Gesundheit des Zentralkomitees (ZK) und dem Büro Erich Honeckers im Bundesarchiv und wählte 300 konkrete Fälle aus, um sie vertiefend zu untersuchen. Bruns konzentrierte sich dabei auf die Vorgänge, "in denen Patienten oder Angehörige ein konkretes Problem oder Anliegen schildern, das mit der gesundheitlichen Versorgung zu tun hat" (20).
Der Anspruch des Autors ist es, die "Eingaben" methodisch im Sinne der "dichten Erzählung" nach Clifford Geertz aufzubereiten und quantitativ wie qualitativ zu analysieren - um eben den Patientinnen und Patienten eine Stimme zu geben und eine "Struktur- und Alltagsgeschichte" zugleich zu schreiben. Bruns gliedert sein Werk in fünf Kapitel und beginnt mit einer klassischen Einleitung, die Methodik und Forschungsstand aufzeigt, wobei er die "Eingabe" hier als "Schnittpunkt von Medizin und Politik" oder als "Hilferuf" (7) an Honecker definiert, wobei beides durchaus kontrovers diskutiert werden könnte. Kapitel zwei bietet auf knapp 40 Seiten einen kursorischen historischen Rahmen und beschreibt das Gesundheitswesen der DDR ab 1945 allgemein sowie die Gesundheitspolitik in der Ära Honecker. Bruns beendet es mit einem zehnseitigen Exkurs zum Arzt-Patientenverhältnis im Staatssozialismus, der an dieser Stelle etwas deplatziert wirkt.
Kapitel drei und vier widmen sich konkreten Fällen und "Eingaben". Bruns bietet hier eine Systematik, die die Fälle inhaltlich nach medizinischen bzw. pharmazeutischen Belangen trennt und die von Bruns definierten bzw. identifizierten thematischen Oberkategorien der "Eingaben" darstellt. Behandelt werden Konflikte in der Arzt-Patienten-Beziehung, Ärztemangel, Wartezeiten sowie "bauliche Probleme", ein Euphemismus von Bruns für die maroden Krankenhäuser und Polikliniken des SED-Regimes. Als einzigem konkretem medizinischem Thema widmet sich Bruns vertiefend dem Schwangerschaftsabbruch, also weder Krebs noch Diabetes oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Kapitel fünf resümiert die Schlussbetrachtungen hinsichtlich der "Eingabe" als einem Medium der "Artikulation von Patienteninteressen unter staatlicher Regie", wobei besonders der Schlussteil und die von Bruns gedeuteten Intentionen der Patientinnen und Patienten bzw. die Rolle ihrer "Eingabe" im Staatssozialismus ein Manko der Arbeit am deutlichsten zu Tage treten lassen: die Tendenz, die untersuchten "Eingaben" zu verabsolutieren.
Bruns' Studie basiert ohne Zweifel auf einer substanziellen Arbeitsleistung. Sie ist methodisch adäquat verankert und lässt immer wieder die Leidenschaft des Arztes gegenüber seinen sozusagen historischen Patientinnen und Patienten erkennen. Ein Kritikpunkt bleibt jedoch der erwähnte Hang zur Verabsolutierung der untersuchten "Eingaben". Denn man darf nicht vergessen: Florian Bruns stützt seine Arbeit, die er im Untertitel mit Das DDR-Gesundheitswesen aus Patientensicht benannt hat, auf 300 Fälle - verteilt auf einen Zeitraum von 18 Jahren. Statistisch also gut 17 Fälle pro Jahr, oder anders formuliert: 1,5 Fälle pro Monat. Im SED-Staat lebten im Untersuchungszeitraum aber 16 Millionen Menschen, die alle - vom Säugling bis zum Greis - mit großer Wahrscheinlichkeit mindestens einmal im Leben krank wurden oder waren.
Insofern bleibt der Anspruch, eine Darstellung zur DDR-Gesundheitspolitik "aus Patientensicht" schreiben zu wollen zwangsläufig überambitioniert. Denn was ist mit denen, die nie eine "Eingabe" geschrieben haben, aber etwa an Brustkrebs erkrankten und im SED-Staat nur rudimentär behandelt werden konnten, während es zur gleichen Zeit im anderen Teil Deutschlands hochspezielle medizinische Therapien für dieselbe Krankheit gab? Wie fassen wir deren Erfahrung? Wie beschreiben wir deren Resignation und Frustration, Hilflosigkeit und Verzweiflung? Wie erfassen wir die, die - anders als im Sinne von Bruns' Schlussfolgerungen - eben nicht an die Wandelbarkeit des Sozialismus glaubten und deshalb eine "Eingabe" schrieben? Und überhaupt: Sind alle Wortlaute der "Eingaben" authentisch? Oder schrieben vielleicht manche auch nur in verbrämter, bitterer Ironie?
Kurzum: Auch wenn es naturgemäß eine diffizile Aufgabe ist, die Gruppe von Patientinnen und Patienten zu fassen, die keine "Eingabe" schrieben, hätte es der hier besprochenen Studie gutgetan, wenn die eigenen Befunde mit etwas größerer Demut in den Gesamtkontext eingebettet worden wären. Denn die Behauptung, trotz breiter Forschung zur Medizingeschichte der DDR gebe es sehr wenig Arbeiten "zur Geschichte der Patienten im real existierenden Sozialismus" (24), rekurriert im Kern auf eine Frage der Perspektive. Man könnte auch einwenden, dass in allen Arbeiten zur Medizin in der DDR per se nicht nur die SED oder der Arzt im Zentrum stehen, sondern vor allem die Betroffenen - auch dann, wenn die Darstellung nicht auf "Eingaben" beruht.
Bruns' Buch bietet große Vorzüge, auch wenn es bisweilen dazu tendiert, das große Ganze etwas in den Hintergrund treten zu lassen bzw. die eigenen Befunde nicht ausreichend vor dem Hintergrund anderer erforschter Patientengruppen reflektiert, etwa den traumatisierten Patientinnen und Patienten der DDR. Und feststeht: Krank und mit ihrer Krankheit einem maroden, minderleistungsfähigen Apparat ausgeliefert waren nicht nur diejenigen, die eine "Eingabe" an das DDR-Gesundheitsministerium, das ZK der SED oder Erich Honecker persönlich verfassten. Im Gegenteil: Die Mehrheit der Patientinnen und Patienten in der DDR ist über die Quelle "Eingabe" historisch nicht zu fassen. Dennoch hat Bruns eine Grundsatzstudie vorgelegt, die die unzweifelhaft wichtige Quelle "Eingabe" im DDR-Gesundheitswesen detailliert beleuchtet - und ausgehend hiervon Anknüpfungspunkte für weitere Forschung und Vergleiche ermöglicht. Damit zeigt Bruns nicht zuletzt auch, dass die DDR-Geschichte alles andere als ausgeforscht ist.
Anmerkung:
[1] Felix Mühlberg: Bürger, Bitten und Behörden. Geschichte der Eingabe in der DDR. Berlin 2004.
Lutz Kreller