Doris Gerstl: Wahlplakate der Spitzenkandidaten der Parteien. Die Bundestagswahlen von 1949 bis 1987, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2020, 815 S., ISBN 978-3-412-50595-0, EUR 100,00
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Wahlplakate, versehen mit dem Konterfei des jeweiligen Spitzenkandidaten (seltener: der Spitzenkandidatin), gehören zu den etablierten Reklameprodukten moderner Parteienwahlkämpfe. Sie gestatten dem Spitzenkandidaten, der trotz aufwendig inszenierter Wahlkampftouren doch niemals in allen Stimmbezirken gleichzeitig auftreten kann, den Kontakt mit dem Bürger; wenn man so will eine Art Anwesenheit trotz Abwesenheit. In Bundestagswahlen dient die Präsentation des potenziellen Kanzlers (der bekanntlich, anders als die gebräuchliche Bezeichnung Kanzlerkandidat suggeriert, nicht vom Volk gewählt wird) dem Stimmenfang und ist gleichzeitig Ausweis einer Personalisierung des bundesrepublikanischen Politikbetriebs. Trotz Rundfunk und Fernsehen, trotz des Internets und sozialer Medien, die allesamt turnusgemäß zu Wahlkampfzwecken bespielt werden, ist bis heute keine Müdigkeit im Gebrauch des analogen Plakats als visuelle Werbeplattform festzustellen.
Nachdem sich bereits Linguistik [1] und Geschichtswissenschaft [2] diesem Medium gewidmet haben, hat auch die Kunstgeschichte das bundesdeutsche Wahlplakat für sich entdeckt. In ihrer an der Universität Erlangen-Nürnberg eingereichten Habilitationsschrift untersucht Doris Gerstl, "welche formalen Mittel mit welcher Intention Porträts in den Plakaten der Spitzenkandidaten in der Begleitung von welchen und [...] wie bemessenen textlichen Aussagen" (16) in den Wahlkämpfen der alten Bundesrepublik ihren Einsatz fanden.
Die Studie ist in fünf Teile gegliedert. Auf eine kurze Darlegung des Spitzenkandidatenplakats als Forschungsdesiderat (I) folgt eine Verortung der Bundestagswahl im politischen System der Bundesrepublik (II), an die sich - Gerstl zieht den Begriff der "(politischen) Werbung" dem der "Propaganda" vor - eine Funktionsbeschreibung des Politikerplakats anschließt (III).
Das Herz der Untersuchung bildet die diachrone Untersuchung der elf Bundestagswahlkämpfe bis 1987 (IV). Auf jeweils rund 50 Seiten je Urnengang legt Gerstl zunächst die politische Ausgangssituation vor der Wahl und die drängendsten Wahlkampfthemen dar. Für die bedeutenderen Parteien wird daraufhin die Struktur der Wahlkampforganisation erläutert (inklusive der Höhe der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel, falls bekannt); es folgt die Diskussion, wie die Kandidatenplakate auszusehen haben, sowie die Beschreibung des endgültigen Entwurfs (neben dem Porträt selbst und seiner Machart werden auch weitere Gestaltungselemente wie Namenszug, Partei-Signet, Farbgebung, Slogan, Wahlkreuze, Unterschriften etc. erörtert) und dessen Wirkung auf die Verfasserin. Falls die Quellenlage es zulässt, wird abschließend aufgezeigt, welchen Eindruck die Plakate auf Zeitgenossen gemacht haben.
Doch bliebe Gerstls Methode notwendigerweise unvollständig, würde sie die einzelnen Wahlkämpfe lediglich additiv nacheinander abhandeln und nicht miteinander vergleichen. Im Schlusskapitel (V) resümiert sie, durchaus in Abgrenzung zum geschichtswissenschaftlichen Forschungsstand, dass Personalisierung seit 1949 an ein zentrales Element von Wahlkämpfen gewesen sei. Diese war indes keine Folge einer Amerikanisierung des Wahlkampfs, sondern bedeutete ein Anknüpfen an politische Traditionsbestände der Weimarer Republik. Das heißt nicht, dass die USA als Orientierungsfaktor gänzlich ausschieden, aber sie waren nur ein Bezugspunkt unter vielen. Manche Elemente amerikanischer Wahlkämpfe waren zuerst in Deutschland erprobt worden, andere ließen sich auf das bundesrepublikanische Politikmodell nicht anwenden, wieder andere seien eher als Phänomene einer allgemeinen Modernisierung anzusehen. Zentral war schließlich auch die Annäherung der Wahlkampfwerbung an die Konsumwerbung, die an Bedeutung gewann, je mehr die Parteien die Werbegestaltung in externe Agenturen auslagerten. Daraus und aus dem Faktum, dass die Agenturen ihre Entwürfe von demoskopischen Erhebungen abhängig machten, folgte eine Professionalisierung, die aber auch dazu führte, dass die Parteien ihre Gestaltungshoheit zunehmend aus der Hand gaben.
Kritisch sind vor allem zwei Dinge hervorzuheben: Zum einen entsteht der Eindruck, dass die Verfasserin die Kernthese einer Personalisierung des bundesdeutschen Wahlkampfs aus ihrer letztlich eingeschränkten Wahl personalisierter Quellen ableitet. Dieser Zirkelschluss wird in der von ihr gewählten Definition ersichtlich: "'Personalisierung' als ein bestimmender Darstellungsfaktor von Politik auf Spitzenkandidatenplakaten wird hier verstanden als Präzisierung von Politik in Personen bzw. als Zentralisierung des Wahlkampfes auf Spitzenkandidaten" (608). Dass Spitzenkandidatenplakate per definitionem Personen abbilden, vermag nicht zu überraschen. Zwar beobachtet Gerstl im Untersuchungszeitraum einen prozentualen Zuwachs von Spitzenkandidatenplakaten unter der Gesamtzahl an Plakaten; bezogen auf das Medium Plakat kann Gerstls These also durchaus Gültigkeit beanspruchen. Ob aber die Personalisierung des bundesdeutschen Wahlkampfs allein aus der Plakatwerbung geschlussfolgert werden kann, dem die Verantwortlichen, wie Gerstl konstatiert, im Laufe der Zeit einen immer geringeren Stellenwert einräumten, ist fraglich. Dazu bedarf es einer ergänzenden Analyse all der anderen Werbemittel - Insertion, Wand- und Wahlkampfzeitungen, Rundfunk- und Fernsehbeiträge, etc. -, die nicht im Fokus der vorliegenden Untersuchung standen.
Zum anderen ist der Verfasserin zwar beizupflichten, dass es sich verbietet, "Wahlergebnisse kurzsichtig in Hinblick auf die Wirkung der Darstellungsmuster der Spitzenkandidatenplakate zu interpretieren" (634). Zuweilen wirkt es aber so, als ob das Wissen um den Ausgang der Wahlen das Urteil der Verfasserin über die gewählte Werbestrategie beeinflusst. So erschien ihr der Wahlkampf der 1965 unterlegenen SPD "unlogisch" (268), "naiv" (269) und "ignorierte zudem die Werbelinie des Spitzenkandidaten" (268), er war folglich "zum Scheitern verurteilt" (269). Vier Jahre zuvor besaß der Verlierer Willy Brandt auf seinem Plakat "ein fast 'verbissenes' Aussehen" (225). Für Konrad Adenauer hingegen, der die Wahl zwar gewann, aber die absolute Mehrheit einbüßte, fällt die Bilanz entsprechend ambivalent aus: Auf einem Plakat wirkte er "diabolisch" und "fast dämonisch" (202), strahlte aber auch "Härte und Entschlossenheit" (203) aus. Für den Wahlkampf 1976, bei dem die auf den Plakaten abgebildeten Kandidaten den Blick in die Ferne schweifen ließen, erklärt die Autorin im Hinblick auf den unterlegenen Helmut Kohl kritisch, dass er "Sympathie-Prinzipien missachtete, da der Dargestellte den Betrachter keines Blickes würdigte" (420), während dieselbe Darstellungsart ihrer Auffassung nach beim siegreichen SPD-Parteivorsitzenden positive Assoziationen weckte und ihn als "Visionär" (441) auswies.
Dessen ungeachtet stellt die Untersuchung einen Gewinn für die kulturgeschichtliche Wahlkampfforschung dar. Besonders hervorgehoben sei neben den bildwissenschaftlichen Ausführungen die vergleichende Darstellung der Wahlkampforganisation der unterschiedlichen Parteien. Insgesamt liegt eine ausführliche und auf einer breiten Quellenbasis fußende Untersuchung zu visuellen Strategien bundesdeutscher Wahlkämpfe vor.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Gerd Müller: Das Wahlplakat. Pragmatische Untersuchungen zur Sprache in der Politik am Beispiel von Wahlplakaten aus der Weimarer Republik und der Bundesrepublik, Tübingen 1978.
[2] Vgl. Thomas Mergel: Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949-1990, Göttingen 2010, 162-170; Claudia C. Gatzka: Die Demokratie der Wähler. Stadtgesellschaft und politische Kommunikation in Italien und der Bundesrepublik 1944-1979, Düsseldorf 2019, 188-196.
Daniel Benedikt Stienen