Peter Longerich: Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte. Von der Aufklärung bis heute, München: Siedler 2021, 631 S., ISBN 978-3-8275-0067-0, EUR 34,00
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Überblickswerke zum Antisemitismus sind in den letzten Jahren einige erschienen. Viele Verlagshäuser sahen die Notwendigkeit dazu; nun auch der Siedler Verlag. Die Anzahl der Publikationen ist begrüßenswert, da die Thematik erschreckend aktuell ist, wie nicht nur der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019 deutlich machte. Bestenfalls führen die Veröffentlichungen dazu, dass sich ein breiteres Lesepublikum mit der Geschichte und Gegenwart der Judenfeindschaft auseinandersetzt. Zugleich wird es dadurch schwieriger, bereits mehrfach Dargelegtes nicht mutatis mutandis zu wiederholen.
Diese Herausforderung meistert Peter Longerich in erstaunlicher Weise. Der renommierte Historiker ist bislang vor allem mit biographischen Werken über Adolf Hitler und andere Größen des NS-Regimes sowie mit Forschungen zur Vernichtung der europäischen Juden hervorgetreten.
Jetzt folgt ein Buch zur Judenfeindschaft von der Aufklärung bis in die jüngere Gegenwart. Longerich ist nicht nur aufgrund seiner historischen Expertise dafür prädestiniert, sondern auch aufgrund seiner Beratungstätigkeit zur Bekämpfung des Antisemitismus. So war er einer der Sprecher des von der Bundesregierung 2009 eingesetzten Expertengremiums.
Der Autor nähert sich dem Gegenstand folglich nicht ausschließlich mit geschichtswissenschaftlicher Distanz, sondern als politisch denkender und agierender Historiker. Diese Annäherung gelingt ihm, ohne zu stark zu moralisieren. Diese Gradwanderung umzusetzen, ist eine der Stärken des Buches. Zugleich bildet der Antisemitismus eben nicht einen Untersuchungsgegenstand wie jeder andere, mit dem man sich sine ira et studio auseinandersetzt. Letztlich dient das bessere Verständnis der historischen Genese des Antisemitismus einem Zwecke: seiner Abschaffung.
Leider scheint dieses Ziel nicht in greifbarer Nähe. So konstatiert Longerich im Prolog eine weltweite Serie von antijüdischen Gewalttaten. Der Antisemitismus sei eben kein Randphänomen, sondern mitten in der Gesellschaft, gerade auch in Deutschland. Zwar markiere er ein zentrales Element des rechtsextremen Weltbildes, überschreite aber die politischen Lager und finde sich sowohl bei der Linken als auch bei muslimischen Jugendlichen jeweils mit spezifischen Ausprägungen. Unter Antisemitismus versteht Longerich definitorisch, "alle Einstellungen und Verhaltensweisen [...], die Personen, die als Juden wahrgenommen werden, aufgrund dieser Zurechnung zum jüdischen Kollektiv negative Eigenschaften unterstellen." (8) Die Judenfeindschaft fungiere als äußerst heterogenes Welterklärungsmuster, das sich oft mit anderen Stereotypen vermenge, in letzter Instanz aber die Juden für die Verwerfungen und Übel in der Welt verantwortlich mache.
Diese "chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit" (9) lasse sich über die unterschiedlichen Epochen hinweg nur aus der konkreten historischen Phase und dem zeitlichen Kontinuum heraus erklären. Dieser Zugriff könne der spezifisch geschichtswissenschaftliche Beitrag sein, die Frage "Warum die Juden?" zu beantworten. Als entscheidend dafür erachtet Longerich, den Zustand und das Selbstverständnis der Mehrheitsgesellschaft in den Blick zu nehmen. Schließlich sei sie es, die die "Judenfrage" aufwerfe. Daraus folgt für den Autor, den deutschen Nationalismus und das deutsche Identitätsverständnis zu fokussieren.
Folgerichtig beginnt das Buch auch mit der Aufklärung und der Debatte über die "bürgerliche Verbesserung der Juden". Im Zuge der jüdischen Emanzipation, der staatsbürgerlichen Gleichstellung einer diskriminierten Minderheit, stellte sich die Frage der Zugehörigkeit zur Nation und damit auch des Ausschlusses in verdichteter Weise.
Dieses erste Kapitel umfasst den Zeitraum bis zur Nationalstaatsgründung 1871. Die weiteren Kapitel folgen den Zäsuren der deutschen Geschichte, also 1918, 1933, 1945.
Anhand zahlreicher Autoren und Beispiele zeigt Longerich, wie sich Verwaltung und die Politik, aber auch Wissenschaft und Publizistik bis 1871 beständig damit auseinandersetzten, ob die Juden nach religiösen, moralischen, kulturellen und sonstigen Kriterien gleichberechtigte Staatsbürger werden könnten. Damit hätten sie die "Judenfrage" erst aufgeworfen, weil es schien, dass die Juden auch unabhängig von der Religion anders seien und nicht dazu gehören könnten.
Longerich beschreibt im nächsten Kapitel die Entstehung des modernen, rassischen Antisemitismus in den 1870er Jahren, die verschiedenen antisemitischen Wellen, die Genese der völkischen Bewegung und die Radikalisierung der Judenfeindschaft im Ersten Weltkrieg mit Bezug auf den Topos des jüdischen Bolschewismus.
In der Weimarer Republik mischte sich der Antisemitismus mit der Ablehnung des neuen Staates. Die sich formierende neue Rechte lehnte die "Judenrepublik" vehement ab und tat alles, um die Juden aus dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen. In den letzten Jahren der Republik traten die Antisemiten schließlich ihren Siegeszug an und brachten den Staat erfolgreich zu Fall.
Anschließend legt Longerich die verschiedenen Phasen der nationalsozialistischen Judenverfolgung dar, die im Kontext des Krieges in der "Endlösung" der Vernichtungslager mündete. Hierbei wirft er auch immer wieder einen Blick auf die Judenfeindschaft in den von Deutschland besetzten oder mit ihm verbündeten Ländern. Diese keineswegs zu ausschweifenden Exkurse zeigen, dass die Judenfeindschaft ein europaweites Problem darstellte, das sich allerdings nirgendwo so radikalisierte wie im nationalsozialistischen Regime. Dessen Vernichtungspolitik wäre nicht möglich gewesen ohne große Unterstützung aus der Bevölkerung und eine weitgehend indifferente Haltung der Mehrheit.
Im abschließenden Kapitel beschreibt Longerich, wie der Antisemitismus nach 1945 in die Latenz abgedrängt wurde, ohne ganz zu verschwinden. Der sekundäre oder Schuldabwehrantisemitismus brach sich immer wieder Bahn, sei es anhand von NS-Prozessen oder in Entschädigungsdebatten. Ausgiebig diskutiert er den Antisemitismus im wiedervereinigten Deutschland und den Zusammenhang zur (neuen) deutschen Identität, die gerne unbefangen, losgelöst von der Vergangenheit wäre. Longerich ruft die verschiedenen Debatten in Erinnerung, etwa Martin Walser, der Auschwitz als Moralkeule und ein Mahnmal dafür in Berlin als Schande begriff. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, war der einzige der bei Walsers Friedenspreisrede 1998 in der Frankfurter Paulskirche den Applaus verweigerte. Im Zuge der sich anschließenden Debatte bedienten sich die Teilnehmer unzähliger antisemitischer Stereotype.
Ähnlich und doch zugleich anders verlief die Diskussion über das 2012 in der SZ und anderen großen europäischen Zeitungen zeitgleich veröffentlichte Gedicht "Was gesagt werden muss" von Günter Grass. Der Schriftsteller warf Israel vor, den Weltfrieden zu gefährden. Anders gelagert war diese Diskussion, weil sie das Verhältnis von Antisemitismus und Kritik an Israel tangierte. Longerich betont die Schwierigkeit, den genauen Umschlagspunkt zu bestimmen, macht aber deutlich, dass vermeintliche Kritik an Israel allzu oft in Ressentiment umschlägt.
Im Epilog diskutiert der Autor die Diskrepanz zwischen der staatsoffiziellen Ablehnung des Antisemitismus und seiner subkutanen Perpetuierung, der öffentlichen Tabuisierung und der Codierung im halböffentlichen und privaten Raum.
Trotz des Weiterwirkens setzt er darauf, dass die zahlreichen eingeleiteten oder angedachten Maßnahmen zur Bekämpfung des Antisemitismus langfristig greifen werden. Eine erfolgreiche Strategie hierzu werde aber nicht drum herumkommen, sich mit der geschichtlichen Genese der Judenfeindschaft zu beschäftigen.
Peter Longerich hat ein Standardwerk zur Geschichte des Antisemitismus in Deutschland seit der Aufklärung verfasst. Souverän und sprachlich abwägend behandelt er die unterschiedlichen Epochen und stellt die wichtigsten Entwicklungen dar. Er zeigt die Dialektik von Kontinuität und Wandlungsfähigkeit des Antisemitismus über die Jahrhunderte auf. Die Transformation der Judenfeindschaft resultierte nicht zuletzt aus dem sich wandelnden Selbstverständnis der Mehrheitsgesellschaft und den Manifestationen des deutschen Nationalgefühls. Somit, so ließe sich nach der Lektüre festhalten, sollte die immer wieder aufgeworfene "Judenfrage" besser als "Antisemitenfrage" bezeichnet werden.
Sebastian Voigt