Tristan Martine / Jérémy Winandy (eds.): La Réforme grégorienne, une « révolution totale » ? (= Rencontres; 494), Paris: Classiques Garnier 2021, 231 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-2-406-11103-0, EUR 28,00
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Dass Europa im 11. und 12. Jahrhundert eine Umbruchphase erlebte, ist sowohl in der deutsch- als auch in der französischsprachigen Forschung Konsens. In der Frage, mit welchem Schlagwort diese Phase etikettiert werden kann, bestehen allerdings Differenzen. Im deutschsprachigen Raum dominiert nach wie vor der Begriff 'Investiturstreit', der auf den Konflikt zwischen päpstlicher und königlicher Gewalt verweist. Im französischsprachigen Raum fokussiert man mit der 'Réforme grégorienne' auf die kirchliche Erneuerung, die vor allem mit Papst Gregor VII. in Verbindung gebracht wird. Beide Begriffe sind aus unterschiedlichen Forschungstraditionen erwachsen und heute nicht unumstritten. Es ist das Ziel des besprochenen Sammelbandes, die unterschiedlichen Deutungen zu erörtern, die mit diesen Termini verbunden sind und sie in einer transnationalen Perspektive auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Die Herausgeber Tristan Martine und Jérémy Winandy führen damit die "solide Tradition des deutsch-französischen Dialogs in der mittelalterlichen Geschichte" (11) fort.
In der Einleitung schlägt Florian Mazel zunächst vor, die Gregorianische Reform als einen "fait social total" (15) zu begreifen. Dieser habe zu einer grundlegenden Veränderung der mittelalterlichen Gesellschaft und zu einer Teilung zwischen einem ersten und einem zweiten Mittelalter geführt. Mazel greift damit die titelgebende Frage auf, ob es sich hierbei um eine "révolution totale" gehandelt habe - ein plakativer, wenn auch nützlicher Begriff, um die Ganzheitlichkeit der unterschiedlichen Phänomene Gregorianische Reform/Investiturstreit fassen zu können. Auf Mazels Ausführungen folgen zehn Beiträge auf Deutsch und Französisch in vier Sektionen.
Die Aufsätze von Thomas Kohl, Stephan Bruhn und Laura Viaut beleuchten die Entwicklung juristischer und kirchlicher Praktiken aus verschiedenen Blickwinkeln. Während Kohl und Viaut quellennah Fragen nach der Bewertung der Laieninvestitur in Frankreich und den Einfluss kirchlicher Reformen auf die Entwicklung des Rechts fragen, bietet Bruhn einen Forschungsüberblick zu den Ansätzen der deutschsprachigen Mediävistik, um die Epoche der Gregorianischen Reform und des Investiturstreits fassen zu können. Bruhn sieht eine Tendenz der Forschung zur Europäisierung und zur Regionalisierung der damit verbundenen Konflikte. Sein Vorschlag, diese beiden Perspektiven zusammenzubringen und auf der Basis lokaler Studien "übergeordnete, europäisch-vergleichende Synthesen" (63) zu erarbeiten, ist für ein besseres Verständnis der Geschichte Europas im 11. und 12. Jahrhundert unabdingbar.
In der zweiten Sektion behandeln Claire Boisseau und Elodie Leschot die Auswirkungen der Gregorianischen Reform auf die Kunst in und an franko-burgundischen Kirchenbauten. Beide demonstrieren mit ihren Analysen den Wert der obengenannten Regionalstudien. So kann besonders Boisseau anhand von Malereien in der Kirche La Trinité in Vendôme klarstellen, welche Rolle der Auftraggeber Abt Geoffroy von Vendôme bei der Durchsetzung der gregorianischen 'Propaganda' in seinem Kloster spielte. Die Gregorianische Reform wird damit zu einem Austausch einer römischen Zentrale mit verschiedenen Reformorten, in dem nicht nur die Reformpäpste, sondern auch lokale Akteure eine bedeutende Rolle spielten.
Im weitesten Sinne theologischen Fragen widmen sich Jérémy Winandy, François Wallerich und Alexis Fontbonne in der dritten Sektion. Wallerich kann durch seine Relektüre der historischen Forschung zum Abendmahlsstreit um Berengar von Tours darlegen, wie eng verzahnt dieser Konflikt mit der Gregorianischen Reform war. Fontbonne zeigt, wie während der Amtszeit Gregors VII. eine Revolution auf diskursiver Ebene stattgefunden hat, indem sich dieser als Stimme des Heiligen Geistes verstand. Dieses Selbstverständnis, das Gregors Nachfolger übernahmen, kann man als gregorianisches Erbe begreifen. Stirnrunzeln bereitet Winandys Beitrag zur "Monastischen Reform" als Vorläufer der Gregorianischen Reform. Am Beispiel der neuesten deutschsprachigen Überblickswerke zum Investiturstreit von Claudia Zey und Jochen Johrendt [1] kommt Winandy zu dem Schluss, "dass in der jüngeren Forschung Klosterreform und der Investiturstreit [...] nicht mehr hauptsächlich zusammen gedacht wurden". Deshalb sei es "nun Zeit für eine neue Synthese." (122f.) Es stimmt zwar, dass die kirchenreformerischen Entwicklungen des 11. und 12. Jahrhunderts ohne die Kloster- (und im Übrigen auch Kanoniker-)reform nicht gedacht werden können. Trotzdem ist es fragwürdig, ob sich das postulierte Forschungsdesiderat anhand von zwei knapp gehaltenen Werken formulieren lässt, zumal diese Kapitel zur Klosterreform enthalten [2] und im weiteren Verlauf auf deren Wichtigkeit eingehen.
Im vierten Teil präsentieren Eugenio Riversi und Hannes Engl schriftliche Formen der Gregorianischen Reform. Riversi behandelt die Streitschriftenliteratur, die im Investiturstreit aufgrund der Parteinahme für und gegen Papst Gregor VII. Neuerungen hervorbrachte, die tatsächlich 'gregorianisch' waren. Neuerungen kann Engl auch für die Papsturkunden des 11. und 12. Jahrhunderts festmachen. Vor allem wegen der Abgrenzung zu den Gegenpäpsten erlebten die Urkunden der Reformpäpste Transformationen in Form und Inhalt. Den Einsatz dieser veränderten Kommunikationsmittel kann Engl anhand päpstlicher Interaktionen in Lotharingien veranschaulichen.
Gerhard Lubich führt die Fäden der Beiträge in seinen konzisen Schlussbetrachtungen zusammen. Er hinterfragt die Tauglichkeit des Revolutionsbegriffs für die untersuchte Epoche. Zurecht weist er darauf hin, dass sich im 11. Jahrhundert sicherlich keine Revolution im politikgeschichtlichen Sinne vollzog und die Verwendung dieses Begriffs eine Entwertung desselben bewirken könnte. Anschließend verweist Lubich auf den Umstand, dass die französischsprachigen Forschenden im dem vorliegenden Band keine Probleme haben, den Begriff der Gregorianischen Reform zu verwenden, in dem die von Mazel beschworene "révolution totale" immer mitschwingt, wohingegen die deutschsprachigen Forschenden ihm meist mit Distanz begegnen.
Dies führt schließlich zu der Frage, was man nach der Lektüre des Bandes aus diesem Ringen um die Begrifflichkeit mitnehmen kann. Ist der Begriff der Gregorianischen Reform nicht zu ungenau, da zu sehr mit Gregor VII. assoziiert und wegen des erklärungsbedürftigen Zusatzes "Reform" nicht zu vage? Und gilt dasselbe nicht auch für den Begriff des Investiturstreits, auf den wegen seiner Konstruiertheit zu verzichten sei, wie Thomas Kohl in einem weiteren jüngst erschienenen Aufsatz vorschlug? [3] Mit Stephan Bruhn gesprochen "sollte [man] die begriffliche Kritik [...] nicht auf die Spitze treiben." (65). Beide Termini haben sich in der Forschung etabliert und sind wohl gerade wegen ihres breiten Deutungsspektrums nicht von Alternativbegriffen verdrängt worden. Zudem haben sie die Europäisierung und Regionalisierung von Studien zum 11. und 12. Jahrhundert bisher nicht behindert. Davon legt der vorliegende Sammelband Zeugnis ab. Im Sinne einer Intensivierung dieser Tendenzen ist es vielmehr geboten, die Begriffe Investiturstreit und Gregorianische Reform nebeneinander zu gebrauchen, wenn man den Blick auf deutsch-französische Grenzräume wie Lotharingien oder Burgund richtet. Gerade hier, wo deutsch- und französischsprachige Forschungstraditionen zusammenkommen, kann ein solches Vorgehen nur gewinnbringend sein.
Anmerkungen:
[1] Claudia Zey: Der Investiturstreit, München 2017; Jochen Johrendt: Der Investiturstreit, Darmstadt 2018.
[2] Zey, Investiturstreit, 22-29; Johrendt, Investiturstreit, 21-35.
[3] Thomas Kohl: Die Erfindung des Investiturstreits, in: HZ 312 (2021), 34-61.
Johannes Luther