Thomas Großbölting / Klaus Große Kracht (Hgg.): Verwaltungslogik und kommunikative Praxis. Wirtschaft, Religion und Gesundheit als Gegenstand von Bürokratie in Deutschland 1930-1960 (= Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft; Bd. 12), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2022, 410 S., ISBN 978-3-515-13127-8, EUR 72,00
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Was vor 20 Jahren kaum einer für möglich gehalten hätte, ist mittlerweile eingetreten. Die Verwaltungsgeschichte boomt. Dies ist in erster Linie Folge der zahlreichen Aufarbeitungsprojekte, die seit etwa 15 Jahren mit staatlicher Förderung die Geschichte zentraler Ministerien, nachgeordneter Behörden und sonstiger politischer Institutionen analysieren, wobei die Frage nach nationalsozialistischen Kontinuitäten, die in den deutschen Nachkriegsinstitutionen fortwirkten, meist eine zentrale Rolle spielt. Doch damit nicht genug. Die Aufarbeitungsforschung versucht, neuere Ansätze speziell der Verwaltungswissenschaft aufzugreifen und diese für die historische Analyse fruchtbar zu machen. So ist die Verwaltungsgeschichte mittlerweile sogar zu einem methodisch innovativen Forschungsfeld geworden. In diesen Kontext fällt auch der vorliegende Sammelband. Er wurde von einem Team aus Münsteraner und Hamburger Historikerinnen und Historikern mit Förderung der Staatsministerin für Kultur und Medien erarbeitet, wobei Thomas Großbölting und Klaus Große Kracht als Herausgeber fungieren. Wie schon der Titel verrät, widmet er sich den Bereichen Wirtschaft, Religion und Gesundheit in der Zeit von 1930 bis 1960 und nimmt dabei besonders die Verwaltungslogik und die kommunikative Praxis in den Blick. So entwirft der Band ein breites Panorama, das etwa den Aufbau der Wirtschaftsverwaltung in der DDR (Dierk Hoffmann), die von zahlreichen Konflikten geprägte Gründungsphase des Bundesgesundheitsministeriums (Franziska Kuschel) sowie den Umgang mit dem Reichskonkordat von 1933 in der frühen westdeutschen Nachkriegszeit (Jan H. Wille) miteinbezieht. Ergänzt werden diese und weitere Forschungsaufsätze von drei Kommentaren ausgewiesener Experten (Michael C. Schneider, Christiane Kuller und Malte Thießen), die die Beiträge in den aktuellen Forschungsstand einordnen und einen größeren thematischen Bogen skizzieren. Doch inwieweit greifen die Beiträge die verwaltungstheoretischen Überlegungen der Einleitung auf? Und inwieweit kann der Sammelband anregend wirken für andere verwaltungsgeschichtliche Projekte?
In ihrer Einleitung fordern die beiden Herausgeber, sich weniger dem politischen Aspekt von Verwaltung, sondern stärker ihrem alltäglichen, von Routinen geprägten Handeln zuzuwenden. Dem ist zuzustimmen, da ein Großteil von Verwaltungshandeln - etwa die Bearbeitung von Anträgen auf staatliche Leistungen oder die Ausstellung von Bußgeldbescheiden - eine vergleichsweise monotone Tätigkeit darstellt, die aber mit großem Aufwand verbunden ist, häufig zahlreiche Arbeitskräfte bindet und Unmengen von Akten produziert. Allerdings wird der formulierte Anspruch des Bands kaum eingelöst. Hierbei gibt es Ausnahmen, etwa wenn Christoph Lorke die Praxis binationaler Eheschließungen im Nationalsozialismus analysiert, die von einer überraschenden Flexibilität oder Willkür der zuständigen Stellen gekennzeichnet war, oder Annette Hinz-Wessels die ausgeprägten Handlungszwänge im Gesundheitsministerium der DDR bei der Bearbeitung von Anträgen auf medizinische Spezialbehandlungen in Westdeutschland beschreibt. Aber abgesehen davon sind mehrere Beiträge von einem geradezu ausufernden Verwaltungsverständnis geprägt. Was soll der Mehrwert sein, die Rechtsprechung bundesdeutscher Gerichte zur Wirtschaftsregulierung (Raphael Hennecke und Sebastian Teupe) oder den in der Hierarchie ganz oben angesiedelten Schriftwechsel zwischen dem Vertreter der katholischen Bischofskonferenz und dem Reichskirchenminister (Sascha Hinkel) als Verwaltungspraxis zu deklarieren? Die Spezifika der Verwaltung, die der Band herausarbeiten will und die sich sowohl vom Handeln der politischen Führung als auch von der Gerichtspraxis wesensmäßig unterscheiden, kommen so gerade nicht in den Blick.
Um den Handlungsantrieb von Behörden differenzierter in den Blick zu nehmen, schlagen die Herausgeber vor, zwischen einer Verwaltungslogik der Konsequenz im Sinne von rationalen Mittel-Zweck-Entscheidungen und einer Logik der Angemessenheit, bei der die Verwaltung stärker auf die Erwartungen der Verwalteten reagiert, zu unterscheiden. Dabei deuten sie selbst an, dass in Verwaltungsabläufen normalerweise beide Logiken zu beobachten sind, da eine Entscheidung nur selten allein auf einer gesetzlichen und routinemäßig umgesetzten Anweisung beruht, sondern auch die Verhältnismäßigkeit und die Folgen mitberücksichtigt. Somit erweist sich die Lektüre von denjenigen Beiträgen als besonders weiterführend, die die beiden Handlungslogiken nicht als absolute Gegensätze konstruieren, sondern die auf differenziertere Weise auf einzelne Entscheidungen der Verwaltung fokussieren und darin sowohl Komponenten von Mittel-Zweck-Überlegungen als auch Hinweise auf Angemessenheitserwägungen erkennen können.
Die Herausgeber erteilen apodiktisch jeglicher Fortschrittsvorstellung in der Verwaltungsgeschichte eine Absage. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber dem Fortschrittsbegriff stellt sich aber doch die Frage, ob diese Aussage in dieser Zuspitzung richtig ist und von den Beiträgen auch bestätigt wird. Bedeutet es nicht auch ein Stück Fortschritt, wenn - wie Niklas Lenhard-Schramm herausarbeitet - seit den 1990er Jahren von der personalen Behördenbezeichnung (z.B. "Der Minister des Innern") abgerückt und damit der sprachlichen Gleichberechtigung der Geschlechter Raum gegeben wird? Oder wenn - wie Benedikt Kemper zeigt - im Bundesjustizministerium 1956 ein Gesetz erarbeitet wurde, das die Einweisung in eine Psychiatrie gegen den Willen des Patienten unter den Vorbehalt einer richterlichen Zustimmung stellte und damit die Möglichkeit zur polizeilichen oder ärztlichen Willkür minimierte? Verwaltung folgte gewiss nie einem zielgerichteten linearen Fortschritt, aber bei einem Vergleich speziell von nationalsozialistischer und bundesdeutscher Verwaltung ist durchaus zu fragen, ob nicht längerfristige Lernprozesse stattgefunden haben, die obrigkeitsstaatliche oder gar rassistische Traditionen in den Hintergrund rücken und ein stärker auf Gleichheit beruhendes, bürgerorientiertes Selbstverständnis hervortreten ließen.
Der Band beansprucht, die Zwänge der Auftragsforschung ein Stück weit hinter sich zu lassen und stattdessen primär der "innerfachlichen Ausdifferenzierung von Wissen" (10) verpflichtet zu sein. Nach der manchmal doch recht ermüdenden Lektüre stellt sich hingegen die Frage, ob gerade in diesem Sammelband die Logiken der Auftragsforschung - genauso wie die des Wissenschaftsbetriebs allgemein - nicht besonders ausgeprägt zum Ausdruck kommen, wenn teilweise am Anfang stehende Forschungsprojekte, teilweise bereits anderweitig veröffentlichte Ergebnisse und teilweise Beiträge, die sich kaum auf die vorgegebene Fragestellung einlassen, publiziert werden. Hierfür gibt es wohlgemerkt positive und anregend zu lesende Gegenbeispiele, aber insgesamt kann der Sammelband doch nur bedingt überzeugen.
Frieder Günther