Julia A. Schmidt-Funke (Hg.): Materielle Kultur und Konsum in der Frühen Neuzeit (= Ding, Materialität, Geschichte; Bd. 1), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2019, 298 S., eine Tbl., 30 Farb-, 21 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50730-5, EUR 49,00
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Anke Fischer-Kattner / Matthias Georgi / Hendrik Grallert u.a. (Hgg.): Schleifspuren. Lesarten des 18. Jahrhunderts. Festschrift für Eckhart Hellmuth, München: August Dreesbach Verlag 2011
Kerstin Armborst-Weihs / Judith Becker (Hgg.): Toleranz und Identität. Geschichtsschreibung und Geschichtsbewusstsein zwischen religiösem Anspruch und historischer Erfahrung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010
Catie Gill: Women in the Seventeenth-Century Quaker Community. A Literary Study of Political Identities, 1650-1700, Aldershot: Ashgate 2005
Julia A. Schmidt-Funke: Karl August Böttiger (1760-1835). Weltmann und Gelehrter, Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2006
Astrid Ackermann / Markus Meumann / Julia A. Schmidt-Funke u.a. (Hgg.): Mitten in Deutschland, mitten im Krieg. Bewältigungspraktiken und Handlungsoptionen im Dreißigjährigen Krieg, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024
Dieser Band ist als erster in der neuen Reihe "Ding, Materialität, Geschichte" beim Böhlau-Verlag erschienen und stammt aus dem Kontext des Forschungsnetzwerkes "Materielle Kultur und Konsum im Europa der Frühen Neuzeit. Objekte - Zirkulationen - Aneignungen". Wie die Bandherausgeberin Julia A. Schmidt-Funke feststellt, hat sich das Forschungsfeld "materielle Kultur" seit der Netzwerkgründung 2011 spürbar belebt. In ihrer programmatischen Einleitung positioniert Schmidt-Funke das Netzwerk in diesem Feld und betont dabei besonders die Relationalität, "das Verhältnis zwischen den Dingen und den Menschen". (13)
Der Band ist transdisziplinär angelegt: Neben geschichtswissenschaftlicher ist auch kunsthistorische und literaturwissenschaftliche Expertise eingeflossen. Die Autor*innen nutzen voraussetzungsvolle Begrifflichkeiten wie "Affordanz" (17, 153), gemeint ist die Beeinflussung menschlicher Handlungen durch materielle Gegebenheiten bzw. der "Aufforderungscharakter" von Objekten und Objektensembles, "social life" (Arjun Appadurai), also die "Zirkulation" der Dinge, "trajectories" im Sinne von "Bewegungsbahnen" (18) oder "Parerga", das heißt "Objekt-Beiwerke". (161-190) Zugrunde liegt ein breites Spektrum teils schon länger etablierter, teils auch neuerer Ansätze. Sich darauf einzulassen, lohnt auch für theoretisch weniger versierte Leser*innen, zumal die anspruchsvolle Terminologie jeweils auf konkrete Fallbeispiele angewendet und dadurch anschaulich gemacht wird.
Jeder Beitrag nimmt ein Einzelobjekt oder eine Gruppe von Objekten bzw. Gütern in den Blick. Im Einklang mit der Konvergenz kulturwissenschaftlicher Ding- und ökonomischer Konsumforschung reicht deren Bandbreite von Kunst (Gemälde, Gläser, aus Edelstein geschnittene Gefäße) über Mode-Accessoires (Seidenbänder) und Alltagsgegenstände (Besteck) bis hin zu Lebensmitteln (Fleisch). Dabei kommt ein bewährtes Instrumentarium zum Einsatz, etwa die Objektbiografie in dem Beitrag von Michael Wenzel zu antiken Kunstwerken oder die warenkundliche Perspektive in Kim Siebenhüners Untersuchung ding-bedingten Staunens und Wissens über importierte Güter. Fast nebenbei wird die breite Anschlussfähigkeit der Erforschung materieller Kultur an andere Forschungsfelder demonstriert, beispielsweise an die Kunsttheorie in Berit Wagners Analyse "alchemistischer Metamorphosen" in den Gemälden Tizians, an Erinnerungskultur in Elizabeth Hardings Überlegungen zu dem in der Herzog August Bibliothek aufbewahrten, mit der Person Martin Luthers verbundenen Löffel oder an die food history in Janine Maegraiths Untersuchung der wechselvollen Geschichte des Fleischkonsums.
Der Band lotet Chancen und Grenzen einer Verknüpfung mit Paradigmen der Frühneuzeitforschung wie der Konfessionalisierung, mit Kategorien wie Geschlecht, mit Theorieangeboten wie der Akteur-Netzwerk-Theorie und mit Themen wie der Ernährung aus. Die Beziehungen zwischen Menschen und materieller Kultur erstrecken sich dabei auch auf Zeichenhaftigkeit, Medialität, Rezeption und Praxisbezug der materiellen Kultur.
Deutlich wird zudem, wie eine an Interaktionen, Transfers und wechselseitigen Beziehungen interessierte Frühneuzeitforschung von der materiellen Kultur profitieren kann. Globaler Gebrauch, weiträumige Zirkulation und grenzübergreifende Aneignungen treten nicht nur aus den weltweit verkauften Seidenbändern in dem Beitrag von Andrea Caracausi oder den "fremden" Dingen der frühneuzeitlichen Warenkunden in dem Text von Kim Siebenhüner hervor. Auch ein Fayencekrug aus Frankfurt ist nur auf den ersten Blick "eindeutig" europäisch, und Schmidt-Funke macht für seine Entschlüsselung das postkolonial inspirierte Konzept der Hybridität von Homi Bhabha fruchtbar.
Eine kulturhistorisch grundierte Sicht auf wirtschaftliche Zusammenhänge eröffnet Kim Siebenhüner. Mit dem bisher eher für das 19. und 20. Jahrhundert gebräuchlichen Begriff der "Warenkulturen" untersucht sie Rückwirkungen europäisch-außereuropäischer Verflechtungen auf den Umgang mit materieller Kultur in Europa. Dabei rücken Sinneseindrücke und affektive Reaktionen in den Vordergrund. Darin deutet sich an, wie sehr der Wandel der materiellen Kultur durch wachsenden Warenreichtum (vor allem aus Asien und dem Atlantikraum) immaterielle mit materiellen und kulturelle mit ökonomischen Aspekten verquickte.
Einzelne Beiträge bieten zudem überraschende Einsichten in das epistemische Potenzial der Dinge. So wird in dem Beitrag von Annette Caroline Cremer deutlich, dass Miniaturisierungen wie Flaschenschiffe jenseits selbstvergessener Geduldsübungen als "Medien der Verdichtung" verstanden werden können. Christiane Holm charakterisiert in ihrer faszinierenden Analyse den Drogentisch der Franckeschen Stiftungen als "epistemisches Möbel". Dessen praxeologisch rekonstruierte Umnutzungsgeschichte erhellt den Zusammenhang zwischen Sammlungen wie der Hallenser Kunst- und Naturalienkammer und "pragmatischen Raumformen insbesondere aus dem Handelswesen" (184), in diesem Fall der Apotheke der Glauchaschen Anstalten.
Insgesamt wird klar: Trotz der erfreulichen Hinwendung zu den "Dingen" bleibt viel zu tun. Besonders das Ansinnen, aus der materiellen Kultur weiterreichende Einsichten in die epochalen Eigenheiten der Frühen Neuzeit zu gewinnen, ist mit Herausforderungen verbunden. Das liegt nicht nur daran, dass die materielle Überlieferung aus der Frühen Neuzeit spärlicher ist als aus späteren Jahrhunderten. Es liegt auch an den noch immer unzureichenden empirischen Erkenntnissen, die zu vertiefen der Band einlädt und anregt. Als epochenspezifisch werden zum Beispiel Quellengattungen wie Aufwandsgesetze, Inventare oder Emblematik genannt, die noch längst nicht ausgeschöpft sind.
Wenn der Band auch Wünsche offen lässt, so zeugt dies wohl einmal mehr von der dynamischen Entwicklung des Forschungsfeldes. Ein Aspekt, der nur am Rand berührt wird, ist beispielsweise das reiche Potenzial digital gestützter Annäherungen an frühneuzeitliche materielle Kultur. Es beruht auf aufwändigen 3D-Scans oder interaktiven Online-Ausstellungen ebenso wie auf den fast geräuschlos, aber stetig wachsenden digitalen Sammlungen. Letztere eröffnen Zugriffsmöglichkeiten auf bisher in Magazinen eingelagerte Objekte, die vielfach zu schlicht (und manchmal auch zu zahlreich) sind, um publikumswirksam gezeigt zu werden, für die Forschung aber ungemein aufschlussreich sein können. Die Aussicht, aufgrund von Objektdatenbanken beispielsweise das Ausmaß frühneuzeitlicher materieller Überlieferung besser als bisher einschätzen oder einer Bias der einseitigen Erforschung materiell hochwertiger Objekte entgegenwirken zu können, weckt Hoffnungen. Das betrifft gerade die methodische Ebene: Eine relationale Perspektive auf materielle Kultur, wie sie in diesem Band dezidiert vertreten wird, könnte durch eine digitale Vernetzung von Objekten untereinander sowie von Objekten mit Text- und Bildquellen noch gewinnen. Möglicherweise wird sich mit digitalen Mitteln auch manche Herausforderung besser meistern lassen. Die Reihe, deren Auftakt dieser lesenswerte Band bildet, wäre dafür gewiss ein passender Ort.
Sünne Juterczenka