Klaus-Jürgen Bremm: Die Türken vor Wien. Zwei Weltmächte im Ringen um Europa, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2021, 462 S., 8 Kt., 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-8062-4132-7, EUR 29,00
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In den gegenwärtigen Identitätsdebatten innerhalb der europäischen Gesellschaften spielen die jeweiligen Erinnerungskulturen an die Herrschaft der osmanischen Dynastie über weite Teile Südosteuropas noch immer bzw. erneut eine wichtige Rolle. In zahlreichen Publikationen, die sich an breitere Öffentlichkeiten richten, wird dieses Kapitel europäischer Geschichte nicht selten kontrovers verhandelt.
Vor diesem Hintergrund ist auch die von Klaus-Jürgen Bremm vorgelegte Darstellung über den machtpolitischen Gegensatz zwischen den Dynastien der Habsburger und der Osmanen zu diskutieren, in der die Verschränkung von Geschichte und Gegenwart im Fazit zumindest ansatzweise thematisiert wird. Der Autor steht einer solchen "Geschichtskontinuität" durchaus kritisch gegenüber, wenngleich er mögliche Beitrittsperspektiven der heutigen Türkei zur EU schließlich auch mit der osmanischen Vergangenheit in Verbindung bringt. Aus Sicht von Klaus-Jürgen Bremm waren die Osmanen trotz langer Phasen einer friedlichen Koexistenz keine Nachbarn und lange auch kein Teil der europäischen Staatenwelt (400). Diese Einschätzung resultiert aus der vorgelegten Darstellung der Machtrivalität zwischen den Dynastien der Osmanen und der Habsburger insbesondere vom 16. bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, die kenntnisreich geschrieben und aufgrund einer überzeugenden Konzeption sowie umfangreichen Anhängen (darunter Zeittafel, Literaturverzeichnis und Register) sehr gut lesbar ist. Die Monographie basiert auf einer aussagekräftigen Literaturgrundlage, und es gelingt dem Autor auch immer wieder, zeitgenössische Schriftzeugnisse mit der gebotenen Quellenkritik in seine Argumentation einfließen zu lassen. Einige der Kapitelüberschriften (Ein Weltreich des Schreckens; In Ungarn nichts Neues) sind sicherlich "eyecatcher", die aber dem Leser bzw. der Leserin bereits eine bestimmte Sicht auf historische Ereignisse und Entwicklungen nahelegen. Dies ist etwas bedauerlich, da die Ausführungen in den Kapiteln immer wieder gesamteuropäische Perspektiven einnehmen und die komplexen politischen Verhältnisse im Untersuchungszeitraum nachvollziehbar und durchaus multiperspektivisch beschreiben.
In den ersten beiden Kapiteln stehen die Entstehung und die Ausdehnung des osmanischen Herrschaftsgebietes bis zum 16. Jahrhundert im Vordergrund, als das Haus Osman weite Teile Nordafrikas und des östlichen Mitteleuropas in seinen Herrschaftsbereich eingliedern konnte. Parallel dazu bemühte sich auch das Haus Habsburg, sein Territorium vor allem im östlichen Mitteleuropa und im nördlichen Afrika auszudehnen. Vor diesem Hintergrund beschreibt Klaus-Jürgen Bremm die Wechselwirkungen beider Expansionsprozesse sowie deren Rückwirkungen auf andere Teile der christlichen "Staatenwelt", wo das Ringen um politische und vor allem militärische Antworten insbesondere gegen die osmanische Expansion eine wichtige Rolle spielte. Die meist vergeblichen Bemühungen um gemeinsame Allianzen gegen das Vordringen des Hauses Osman bildeten dabei allerdings nur eine Seite der Medaille. Unterschiedliche Formen der politischen Zusammenarbeit, wie sie zeitweise im 16. Jahrhundert zwischen dem Osmanischen Reich und Frankreich als Reaktion auf die Machtausdehnung der Habsburger zu beobachten waren, gehörten ebenso zur politischen Wirklichkeit. Bremm gelingt es, diese großen geopolitischen Dynamiken mit dem Blick auf regionale Ereignisse zu verbinden. Die etwa drei Jahrzehnte dauernde Eroberung weiter Teile des historischen Königreichs Ungarns, die osmanisch-venezianischen Kriege im Mittelmeerraum, aber auch das habsburgisch-osmanische Ringen in Nordafrika werden nicht nur detailliert beschrieben, sondern eben auch kenntnisreich miteinander in Verbindung gesetzt.
In den drei darauffolgenden Kapiteln stehen vor allem die "Türkenkriege" des 17. und 18. Jahrhunderts im Vordergrund, die mit dem "Langen Türkenkrieg" ihren Anfang nahmen. Auch in diesen Ausführungen richtet der Autor den Blick auf die wichtigen Kontrahenten und beleuchtet deren Motive und Entscheidungen vor dem Panorama der politischen Entwicklungen insbesondere im gesamteuropäischen bzw. mediterranen Kontext. Auch hier zeigt sich, wie das Feindbild des "Türken" immer wieder auch zur Herrschaftsetablierung bzw. -festigung innerhalb der christlichen Herrschaftsgebilde beitrug. Natürlich kann eine solche Überblicksdarstellung nicht alle aktuellen Diskussionen in der historischen Forschung ansprechen, daher sei nur auf eine solche Debatte als Beispiel verwiesen. Es ist u.a. umstritten, ob der "Lange Türkenkrieg" tatsächlich 1606 endete oder dessen formales Ende erst mit dem Friedensschluss von 1612 anzusetzen ist. Ein Abschnitt ist dann dem "Großen Türkenkrieg" (1683-1699) gewidmet, dessen wechselvoller Verlauf sehr präzise dargestellt wird.
Bremm präsentiert schließlich den Frieden von Karlowitz/Sremski Karlovci (1699) als Wendepunkt, mit dem die Osmanen "endlich Teil der europäischen Streitgemeinschaft" (312) geworden seien. Diplomatiegeschichtlich ist Karlowitz vor allem deshalb interessant, weil die Hohe Pforte erstmals mit einer Koalition von Großmächten (fast) gleichzeitig Friedensverhandlungen führte und dafür gemeinsame Regeln definiert werden mussten. Geopolitisch brachte dieser Friedensvertrag allerdings Spannungen mit sich, die sich in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts u.a. in den letzten habsburgisch-osmanischen Auseinandersetzungen widerspiegelten. Jedoch stand Karlowitz symbolisch auch für die endgültige Präsenz des zaristischen Russlands als ein entscheidender Machtfaktor für die Geschichte Südosteuropas in den folgenden Jahrhunderten.
Diesem Thema widmet sich schließlich das letzte Kapitel dieses Buches, in dem die expansive Politik Russlands dargestellt wird, die zunehmend zur existentiellen Gefahr für das Osmanische Reich wurde. Die Monarchie der Romanows wurde nun zu einem der entscheidenden Gegenspieler für das Haus Osman, während die Handlungsoptionen des Wiener Hof deutlich eingeengt wurden. Insgesamt bietet das vorliegende Buch einen sehr guten Überblick über die osmanisch-habsburgische Machtrivalität aus einer stark militärgeschichtlichen Perspektive, so dass Fragen kultureller oder ökonomischer Beziehungen weniger Beachtung fanden. Dem Autor ist es insgesamt gelungen, komplexe politische Entwicklungen für ein breites Lesepublikum verständlich darzustellen. Daher ist dieses Buch sicherlich als Lektüre zu empfehlen.
Markus Koller