Rezension über:

Alfred Eisfeld / Olga Eisfeld / Andrij I. Kudrjačenko u.a. (Hgg.): Deportacija Nemecev Ukrainy 1941‒1946. gg. Sbornik dokumentov [Deportation der Deutschen der Ukraine 1941‒1946: Dokumentensammlung] (= Veröffentlichung - Der Göttinger Arbeitskreis; Nr. 532), Kyiv: Feniks 2021, 279 S., ISBN 978-966-02-9700-5
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Rezension von:
Joshua R. Kroeker
Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Empfohlene Zitierweise:
Joshua R. Kroeker: Rezension von: Alfred Eisfeld / Olga Eisfeld / Andrij I. Kudrjačenko u.a. (Hgg.): Deportacija Nemecev Ukrainy 1941‒1946. gg. Sbornik dokumentov [Deportation der Deutschen der Ukraine 1941‒1946: Dokumentensammlung], Kyiv: Feniks 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 9 [15.09.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/09/37347.html


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Alfred Eisfeld / Olga Eisfeld / Andrij I. Kudrjačenko u.a. (Hgg.): Deportacija Nemecev Ukrainy 1941‒1946

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Die Deportation der sowjetischen Deutschen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs bildet nach wie vor den zentralen Eckpfeiler des historischen Narrativs der "russlanddeutschen" Geschichtsschreibung. Sie bedeutete eine Zäsur für die ethnisch deutschen Gemeinschaften im gesamten Sowjetreich. Hunderttausende ethnischer Deutscher wurden in Züge und Viehwaggons gezwungen und über Tausende von Kilometern nach Sibirien, Kasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan verschleppt. Viele starben an den Folgen der Deportationen, entweder an Hunger, Kälte oder wegen der schwierigen Arbeits- und Lebensbedingungen. Zahlreiche Männer und Frauen wurden gezwungen, unter sklavenähnlichen Bedingungen in der sogenannten Arbeitsarmee zu arbeiten, die die militärischen Anstrengungen der Sowjetunion in der Nahrungsmittelproduktion, der Landwirtschaft, der Waffenherstellung, der Forstwirtschaft und anderen Bereichen unterstützte. Als der Krieg 1945 endete, wurden die ethnischen Deutschen nicht entlassen, sondern verpflichtet, unter elenden Bedingungen in den östlichen Teilen des Sowjetgebiets zu bleiben. Die überwiegende Zahl der Texte und Forschung zu diesem Thema konzentriert sich jedoch auf die Wolgaregion.

In ihrer 2021 veröffentlichten Dokumentensammlung lenken die Herausgeber den Blick auf eine Region, die bislang weitgehend vernachlässigt worden ist: die Ukraine. In der umfangreichen Einleitung werden die Facetten der schwarzmeerdeutschen Geschichte vor allem in der Südukraine beleuchtet und damit die Grundlagen für einen Großteil des Buches gelegt. Die Herausgeber Alfred Eisfeld und Andrij I. Kudrjačenko betrachten die Geschichte der Region vom Beginn der schwarzmeerdeutschen Besiedlung 1861 bis zur Deportation in den 1940er Jahren und sogar die Rehabilitierung in späterer Zeit. Schon in der Einleitung gelingt es den Autoren, fast zwei Jahrhunderte Geschichte auf nur wenigen Seiten zu behandeln, die wichtigsten Themenbereiche hervorzuheben und das Ziel des Buches festzulegen, dem Leser ein Gefühl für "das Ausmaß, die Dynamik und die Brutalität der Mittel zu vermitteln, die von den repressiven Behörden der UdSSR eingesetzt wurden, um die Deutschen aus der Ukraine in die abgelegenen östlichen Regionen der Sowjetunion zu vertreiben" (19f.).

Der Mehrwert des Werkes liegt in den über 100 Archivdokumenten, die sich alle mit der Deportation von Deutschstämmigen beschäftigen und sich insbesondere auf diejenigen aus der Ukraine konzentriert. Die Dokumente lassen sich größtenteils in zwei Kategorien einteilen: Zentrum und Peripherie. Zu den Dokumenten aus dem Zentrum gehören zum Beispiel der Befehl zur Deportation von Deutschstämmigen aus der Ukraine, eine Sondermeldung von Lawrenti Beria, Chef der Geheimdienste der UdSSR, an Stalin über die Verhaftung von Personen, die mit den deutschen Besatzungsbehörden kollaborierten oder mehrere Dokumente über den rechtlichen Status der Deportierten in Sibirien und Zentralasien. Die überwiegende Mehrheit der Dokumente ist jedoch in einem regionalen Kontext zu sehen. Dazu gehören unter anderem Pläne für den Transport von Deutschen aus verschiedenen ukrainischen Regionen, Informationen über den Tod von Personen, die in den Osten deportiert wurden, Zahlen von Einzelpersonen und Familien, die aus einzelnen Regionen oder Ortschaften verschleppt wurden, sowie Informationen über die Bedingungen an den Ankunftsorten. Die Detailliertheit der ausgewählten Archivdokumente ermöglicht sowohl Makro- als auch Mikrostudien über die Deportation von Deutschen aus der Ukraine während der Kriegsjahre und unmittelbar danach.

Für sich allein genommen erscheinen die Dokumente oft sehr fragmentarisch und zuweilen willkürlich ausgewählt. Um das Archivmaterial des Buches zu kontextualisieren und der Leserschaft den historischen Zusammenhang zu vermitteln, haben die Herausgeber die Einleitung genutzt. Des Weiteren verfasste Alfred Eisfeld einen ausführlichen und mit dem Archivmaterial fundierten Aufsatz mit dem Titel "Die Deportation der ukrainischen Deutschen in den Jahren des Zweiten Weltkriegs: Gründe und Folgen". Sowohl dieser Aufsatz als auch die Einleitung sind notwendige Bestandteile des Buches; ohne sie hätten die ausgewählten Dokumente wenig Aussagekraft. Im Aufsatz lässt Eisfeld aufscheinen, unter welchen Bedingungen Schwarzmeerdeutschen vor dem Krieg lebten, einschließlich der Vor- und Nachteile ihres Status vor und während der Besatzung. Er zeigt auch, in welchen Rahmen sie verhaftet, deportiert und schließlich rehabilitiert wurden. Obwohl sowohl die Einleitung als auch Eisfelds Aufsatz für das Verständnis der im Buch enthaltenen Dokumente notwendig sind, sind es die Dokumente selbst, die dem Buch einen echten Mehrwert verleihen.

Abschließend zur Edition: Der Wert der zweisprachigen (überwiegend russischen, aber auch ukrainischen) Ausgabe ist sehr hoch einzuschätzen. Die in dem Buch enthaltenen Dokumente stammen aus einer Reihe russischer und ukrainischer Archive, darunter Staatsarchiv der Russischen Föderation (GARF), das Stalin/NKVD-Archiv in der Lubjanka sowie lokale Staatsarchive. Angesichts der restriktiven russischen Praxis, die den Zugang zu wichtigen Archivbeständen unmöglich macht, sowie des Krieges in der Ukraine und der Zerstörung vieler Archive wird sich die Veröffentlichung dieser Dokumente als äußerst wertvoll erweisen. Die sorgfältige Auswahl und Reproduktion des Archivmaterials durch den Herausgeberkreis ermöglichen sowohl Studierenden als auch Forschenden auf diesem Gebiet den Zugang zu einer Reihe von Dokumenten, die sonst kaum aufzufinden wären. Die Beschäftigung mit den deutschen Kolonisten in der Ukraine ist Teil einer größeren Forschungsinitiative zur Diversifizierung der Forschung über eine sehr heterogene Gruppe Deutschstämmiger, die sich bisher überwiegend auf die Wolgaregion konzentriert hat. Letztlich ist es diese Perspektive in Verbindung mit den ausgewählten Dokumenten, die diese Edition zu einer wichtigen Grundlage für Historiker der russlanddeutschen Geschichte machen.

Joshua R. Kroeker