Rezension über:

Wolfgang Benz (Hg.): Die Ukraine. Kampf um Unabhängigkeit. Geschichte und Gegenwart, Berlin: Metropol 2023, 455 S., ISBN 978-3-86331-697-6, EUR 29,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Joshua R. Kroeker
Ruprecht-Karls-Universität, Heidelberg
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Joshua R. Kroeker: Rezension von: Wolfgang Benz (Hg.): Die Ukraine. Kampf um Unabhängigkeit. Geschichte und Gegenwart, Berlin: Metropol 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/38357.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Wolfgang Benz (Hg.): Die Ukraine

Textgröße: A A A

Der von Wolfgang Benz herausgegebene Sammelband "Die Ukraine. Kampf um Unabhängigkeit" ist eine wichtige Ergänzung zum wachsenden Kanon der Literatur über das lange ignorierte Thema der ukrainischen Staatlichkeit und ihrer eigenständigen Geschichte. Als Sammlung von insgesamt 25 Einzelaufsätzen, sowohl von etablierten als auch von jüngeren Wissenschaftlerinne und Wissenschaftlern, bietet der Band eine breite Themenpalette zur jahrhundertelangen Geschichte der Ukraine. Dieses Spektrum verleiht einer Nation, die derzeit um ihre Existenz und in vielen Fällen auch gegen die ahistorische Propaganda Russlands kämpft, eine Stimme. Ohne die zahlreichen Schwierigkeiten zu beschönigen, mit denen die Ukraine in den letzten Jahren und Jahrhunderten konfrontiert war, beleuchtet dieser Band des kleinen Berliner Verlags die Bausteine der modernen ukrainischen Nation und beschreibt, wie dieses Land dorthin kam, wo es heute ist.

Der Band ist in fünf Abschnitte gegliedert: Traditionslinien, Minderheiten, Katastrophen, Wege in die Moderne und Krisen. Der erste Teil des Sammelbands - Traditionslinien - widmet sich den zahlreichen Komplikationen und Verflechtungen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart der Ukraine. Er beginnt mit einem allgemeinen geschichtlichen Überblick über die Ukraine (Gerhard Simon), wechselt aber sogleich zu den Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine, insbesondere zu Russlands imperialistischem Vorgehen gegenüber der Ukraine im letzten Jahrhundert und zu den Versuchen der Ukraine, sich als unabhängiger europäischer Staat zu etablieren (Simon, Immo Rebitschek). Insgesamt verdeutlicht dieser Teil jedoch die historische Abhängigkeit der Ukraine von ihren Nachbarn: Einerseits versucht Russland, der Ukraine das Recht die Existenz und auf einen unabhängigen Staat abzusprechen, andererseits besteht, wie Simon in seinem Beitrag schreibt, "nur mit der Fortsetzung und Steigerung des Einsatzes des Westens für die Ukraine eine Chance, das Land dauerhaft zu einem Teil des Westens zu machen" (31).

Der zweite, wenn auch kürzeste Teil des Sammelbands, ist der oft vernachlässigten Forschung über Minderheitengruppen in der Ukraine gewidmet. Diese bleibt traditionell angesichts der Fokussierung auf die ukrainische Nation, der Geschichte der Sowjetunion oder dem russischen Imperium im Hintergrund. Drei Beiträge (Wolfgang Benz, Tim B. Müller, Viktoria Savchuk) befassen sich mit dem Leben und der Geschichte von Juden, Roma und Krimtartaren und stellen somit einige der wichtigsten Minderheitengruppen der ukrainischen Geschichte vor. Gleichzeitig wird jedoch die Geschichte der vielen anderen Gruppen, die das bunte Bild der Ukraine ausmachen, ausgelassen, wie zum Beispiel ethnische Deutsche (Wolhynien- und Schwarzmeerdeutsche), Griechen, Ungarn und so weiter. Dennoch ist die Prominenz der Minderheitenforschung in diesem Sammelband eine wichtige Ergänzung des wachsenden Lexikons der noch dringend benötigten Literatur.

Es überrascht nicht, dass der größte Teil der Beiträge - Katastrophen - sich hauptsächlich auf den Holocaust und die deutschen Verbrechen in und gegen die Ukraine und ihre vielen Völker konzentriert. Obwohl dieser Abschnitt zweifelsohne für die Forschung wichtig ist und neue und interessante Forschungsergebnisse aufweist, wie z.B. Grzegorz Rossoliński-Liebes Forschung über die Verbrechen von Stepan Bandera an Polen und Juden, hat der Leser den Eindruck, dass der deutsche Fokus auf die NS-Verbrechen den Blick auf die Ukraine etwas überwiegt: Anstatt der ukrainischen Geschichte eine eigene Handlungsfähigkeit zu verleihen, wird diese auf die deutsche Geschichte übertragen, während die Ukraine und ihre Völker wieder einmal als passive Opfer betrachtet werden. Um dem entgegenzuwirken und ein großes Forschungsdefizit zu mindern, hätte sich dieser Teil stärker auf die ukrainische Beteiligung an den von deutschen Akteuren begangenen Verbrechen sowie auf die Sozial- oder Alltagsgeschichte derjenigen in der Ukraine konzentrieren können, die solche Verbrechen erlebt haben. Stephan Merls Beitrag über das hochpolitische Thema des staatlich sanktionierten Hungers von 1932/33 in der Ukraine, Russland und Kasachstan, dem "Holodomor", dem mehr als sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen, bringt einen höchst umstrittenen Diskurs zum Vorschein, ob dies als Völkermord betrachtet werden sollte oder nicht (was nach Ansicht von Merl nicht zutrifft). Dennoch wirft der Sammelband einen kritischen Blick auf die Komplexität der ukrainischen Geschichte und scheut sich nicht davor, auch deren dunklen Seiten zu beleuchten, wie die nationalistischen Untergrundgruppen der Ukrainischen Aufständischen Armee und die Kollaboration während des Holocausts.

Die letzten beiden Abschnitte - "Wege in die Moderne" und "Krise" - befassen sich vorrangig mit der modernen Ukraine und dem Verlauf der Ereignisse, die zu Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine geführt haben. "Wege in die Moderne" untersucht innerukrainische Prozesse, "Krise" hingegen konzentriert sich auf die Art und Weise, wie Russland aktiv versucht, eben demokratische Bemühungen zu unterbinden: Hybride Kriege, Russlands neoimperiale Geschichtspolitik und der gezielte Einsatz umstrittener Persönlichkeiten wie Stepan Bandera sowie die Schwierigkeiten der Ukraine bei der Bewältigung ihrer eigenen Geschichte, sind allesamt nicht greifbare, aber wirksame Instrumente, die Russland einsetzt, um die ukrainische Souveränität und ihr kurzes demokratisches Erbe anzugreifen.

Die Aufgabe, die sich der Herausgeber selbst stellt - "einige wesentliche historische, politische, soziale Determinanten der ukrainischen Gegenwart zu beleuchten und deren historische Ursachen darzustellen" (10) - wird hier alles in allem erfüllt. Dem Sammelband gelingt es nicht nur, die vielen historischen Bausteine der modernen Ukraine herauszuarbeiten, sondern die einzelnen Autorinnen und Autoren verteidigen darüber hinaus die Geschichte der Ukraine ebenso erfolgreich gegen den neoimperialen Krieg Russlands, den Putin mit Waffen, aber auch durch ahistorische Narrative auf der globalen medialen Ebene gegen die Ukraine führt. Der Sammelband geht über eine klassische Textauswahl zu einem bestimmten Thema hinaus und liefert eine so große thematische Breite, dass das gesamte Buch im universitären Unterricht eingesetzt werden kann - und sollte.

Mit dem Erscheinen dieses Bandes wurde ein weiterer Beitrag zur fundierten historischen Forschung der Geschichte der Ukraine geleistet. Damit trägt es die komplex tragische, oft dunkle, aber verdienstvolle Geschichte und Identität der Ukraine ein Stück mehr in die Öffentlichkeit.

Joshua R. Kroeker