Rezension über:

Marino Zabbia (a cura di): Storici per vocazione. Tra autobiografia e modelli letterari (= I libri di Viella; 384), Roma: viella 2021, 124 S., ISBN 978-88-3313-799-5, EUR 18,00
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Eugenio Riversi
Historisches Seminar, Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Eugenio Riversi: Rezension von: Marino Zabbia (a cura di): Storici per vocazione. Tra autobiografia e modelli letterari, Roma: viella 2021, in: sehepunkte 22 (2022), Nr. 10 [15.10.2022], URL: https://www.sehepunkte.de
/2022/10/36064.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Marino Zabbia (a cura di): Storici per vocazione

Textgröße: A A A

Im Rahmen eines Forschungsprojekts über die Merkmale der spätmittelalterlichen Geschichtsschreibung [1] wurde dieser kleine Sammelband veröffentlicht, dessen Beiträge sich den autobiographischen Beweggründen der damaligen Historiker sowie den Modellen ihrer Autorschaft widmen. Laut dem Herausgeber Marino Zabbia sind in der in Italien verfassten Geschichtsschreibung der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts kurze Überlegungen der Autoren zu lesen, in denen sie erklären, aus welchen persönlichen Gründen sie ihre Werke verfasst haben. Diese nicht sehr zahlreichen Geständnisse ("non sono molto numerose queste confessioni", 8) bilden Zabbia zufolge gleichzeitig ein verbreitetes Merkmal der damaligen historiographischen Kultur in Italien ("sembrano quindi costituire un carattere diffuso nella cultura storiografica italiana bassomedievale", 8). Um dieses Merkmal zu bezeichnen, verwendet er den Begriff "vocazione": Die damaligen Chronisten oder Biographen hätten sich zum Historiker berufen gefühlt, d.h. sie haben sich - auch, nicht ausschließlich - aus irgendeinem persönlichen Grund für die Geschichtsschreibung entschieden.

Diese sehr spezifische Fragestellung, die jedoch auf die nicht analytische, sondern eher heuristisch schwammige Kategorie "vocazione" zurückgreift, beantworten die folgenden Beiträge sehr unterschiedlich. Zunächst betrachtet Giuseppe Zecchini einige spätantike Voraussetzungen, indem er die Anlässe für das Schreiben von Geschichte bei christlichen Autoren vom 4. bis zum 6. Jahrhundert untersucht. Er stellt fest, dass Kürze (brevitas) ein zentraler Wert für Erzählungen der Vergangenheit war, die ein für die Zeitgenossen und die Nachwelt wertvolles Wissen vermittelten. Kennzeichnend ist aber vor allem eine neue kommunikative Situation, in der die Autoren in einer asymmetrischen, von Gehorsam geprägten Beziehung zu ihren geistlichen Empfängern - vor allem Bischöfen - standen.

Anschließend befasst sich Giuseppe Noto mit Aspekten der Autorschaft in einigen literarischen, überwiegend dichterischen Werken, die in romanischen Sprachen - Okzitanisch und Altfranzösisch - verfasst wurden. Noto richtet den Blick vor allem auf das Selbstverständnis des Troubadours Raimon Vidal (13. Jahrhundert) und der Marie de France (12. Jahrhundert), insbesondere anhand der Konzeption von Literatur als Erinnerung.

Im nächsten Beitrag versucht Paolo Garbini zunächst, den Begriff "vocazione" genauer zu definieren. Als besondere Neigung zur Geschichtsschreibung ("particolare predisposizione [...] per la scrittura della storia", 36) verstanden, untersucht Garbini sie im Geschichtsdenken des wichtigsten Rhetoriklehrers im Hochmittelalter: Boncompagno da Signa (13. Jahrhundert). Dieser individuellen Neigung wird anhand eines sehr spezifischen Aspekts nachgespürt: der Bedeutung der rumores, womit nicht nur Gerüchte, sondern allgemeiner aktuelle Nachrichten gemeint sind. Garbini kann zeigen, dass der Umgang mit rumores für Boncompagno in der Theorie sowie in der Praxis der Kommunikation (und nicht nur der Geschichtsschreibung) eine zentrale Bedeutung hatte.

Erst der darauffolgende Beitrag von Marino Zabbia scheint das Ziel der anfangs aufgeworfenen Fragestellung präzise zu treffen: Nach einigen Überlegungen zur Autobiographie der Autoren und zur städtischen Geschichtsschreibung bringt Zabbia einzelne Beispiele aus dem 14. Jahrhundert. Insbesondere konzentriert er sich auf die Bedeutung von persönlichen Angelegenheiten in der Entstehung der Werke des Mailänders Galvano Fiamma (58-62) und des Florentiners Giovanni Villani (62-65).

Der Beitrag von Giorgio Vespignani widmet sich der umfangreichen und komplexen Tradition der Chronistik in Venedig und der allmählichen Konstruktion einer mythischen Darstellung der Geschichte der Stadt im Spätmittelalter. Aus dieser Mythisierung, die eng mit der Entwicklung der Institutionen verbunden war, folgt bezeichnenderweise der Verzicht der Autoren auf die Erwähnung expliziter persönlicher Angelegenheiten oder auf Stellungnahmen in ihren Texten. Das demonstriert Vespignani anhand der Geschichtswerke von Lorenzo de Monacis und Antonio Morosini aus dem 15. Jahrhundert.

Einen anderen Schwerpunkt setzt Fulvio Delle Donne in seinem Beitrag über die wichtigste humanistische Geschichtsschreibung aus dem 15. Jahrhundert. Er konzentriert sich dabei auf Leonardo Brunis, Lorenzo Vallas und Flavio Biondos Selbstverständnis als Historiker. Insbesondere untersucht er die Bedeutung des Vorbilds von Thukydides für die Entstehung eines methodischen, gattungsspezifischen Bewusstseins der Geschichtsschreibung, das einen frühen Schritt in Richtung der modernen Professionalisierung der Historiker bildete.

Zuletzt setzt sich Franco Arato mit frühneuzeitlichen (16.-18. Jahrhundert) italienischen Literaturgeschichten auseinander und betont die verschiedenen Schwerpunkte, für die sich deren gelehrte Autoren entschieden haben.

Letzterer Beitrag zeigt die im Vergleich größte Abweichung von der erwähnten spezifischen und gleichzeitig nicht analytischen Fragestellung über die "vocazione" der spätmittelalterlichen Historiker. Die an sich interessanten einzelnen Beiträge, die von ausgewiesenen Experten verfasst wurden, lassen eine übergreifende Kohärenz vermissen. Zwar erwähnt der Herausgeber in der Einleitung die Schwierigkeiten, die die pandemische Lage dem Gelingen der geplanten Tagung und der anschließenden Veröffentlichung bereitet hat. Das ist zweifelsohne sehr nachvollziehbar. Allerdings stellt sich dennoch die Frage, ob dieser Sammelband nicht einfach mehr Zeit gebraucht hätte, um einen qualitativen Mehrwert in Bezug auf die zentrale Fragestellung zu erzielen. Anhand dieses Beispiels lässt sich die Pandemie jedoch auch als eine verpasste Chance begreifen: die Chance, Schritte zu einer Ökologie des wissenschaftlichen Arbeitens zu unternehmen.


Anmerkung:

[1] Im Rahmen desselben Forschungsprojekts sind schon andere Sammelbände über die mittelalterliche Geschichtsschreibung erschienen. Zuletzt beim gleichen Verlag: Fulvio Delle Donne / Paolo Garbini / Marino Zabbia (Hgg.): Scrivere storia nel medioevo. Regolamentazione delle forme e delle pratiche nei secoli XII-XV (= I libri di Viella, 377), Rom 2021.

Eugenio Riversi