Antje Harms: Von linksradikal bis deutschnational. Jugendbewegung zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik (= Geschichte und Geschlechter; Bd. 76), Frankfurt/M.: Campus 2021, 580 S., ISBN 978-3-593-51292-1, EUR 49,00
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Mit der Geschichte der Jugendbewegung haben sich seit mehr als sechzig Jahren verschiedene Autoren und Autorinnen auf unterschiedliche Weise beschäftigt. Während die ältere Forschung ein romantisiertes, verklärendes Bild der bürgerlichen Jugendbewegung zeichnete und dieser attestierte, mit völkischen, rassistischen Strömungen sowie dem Nationalsozialismus keine Verbindungen gehabt zu haben, widmen sich neuere Studien, etwa die von Christian Niemeyer, dem "Mythos Jugendbewegung" und decken ihre "dunklen Seiten" auf. [1]
Dass aber die Geschichte der Jugendbewegung noch nicht zu Ende erzählt ist, macht die Untersuchung von Antje Harms deutlich. Diese Freiburger Dissertation beschäftigt sich mit der Politisierung der bürgerlichen Jugendbewegten und untersucht schwerpunktmäßig die Ränder dieses politischen Segments. Harms' Ziel ist es, die vielfältigen und heterogenen Kräfte von links bis rechts in der bürgerlichen Jugendbewegung sichtbar zu machen. Sie legt den Fokus ihrer Untersuchung deshalb auf die sogenannte mittlere Phase der Jugendbewegung zwischen 1913 und 1923, in der sich die politische Heterogenität am deutlichsten manifestiert habe.
Antje Harms greift an mehreren Forschungslücken an. So widmet sie sich bei der Untersuchung der Politisierungsprozesse sowohl männlichen als auch weiblichen Mitgliedern verschiedener jugendbewegter Organisationen und untersucht dabei mithilfe eines generationengeschichtlichen Ansatzes die Faktoren, die zur Ausprägung eines politischen Bewusstseins, dem Engagement in der Jugendbewegung und der politischen Polarisierung beigetragen haben. Die bürgerliche Jugendbewegung, die seitens der Forschung bislang zumeist auf den Wandervogel und die Freideutsche Jugend reduziert wurde, sei nur von den politischen Rändern her adäquat zu beschreiben, so das Credo der Autorin.
Im ersten Großkapitel schildert Harms die Entwicklung der verschiedenen Gruppierungen in der bürgerlichen Jugendbewegung sowie der politischen Flügel. Ihre Ausführungen zu den Institutionen sowohl aus dem linken als auch dem rechten Spektrum und deren Verhältnis zu den großen Organisationen und Dachverbänden bieten zahlreiche erhellende Erkenntnisse, insbesondere angesichts des politischen Einflusses auf Letztere. Die Jugendkulturbewegung, die auf dem linken Flügel der bürgerlichen Jugendbewegung zu verorten ist, konnte sich etwa trotz ihres raschen Ausschlusses aus der Freideutschen Jugend über personelle Kontakte einigen Einfluss auf die gesamte Bewegung sichern. Überaschenderweise schlossen sich Vertreter und Vertreterinnen beider Lager oft zusammen, um gemeinsame Ziele zu erreichen.
Im zweiten Kapitel stehen die Mitglieder der Jugendbewegung und insbesondere deren politische Sozialisation während des Kaiserreichs im Fokus. Hier arbeitet Harms - insbesondere im Hinblick auf die weiblichen Mitglieder der Jugendbewegung - ein bedeutendes Desiderat auf. Die von Harms ausgewählten hundert Biografien vermitteln den Lesern und Leserinnen erste Einblicke in die innerhalb der Bewegung vorherrschenden Geschlechterverhältnisse. Als besonders ertragreich erweisen sich die skizzierten Sozialprofile der untersuchten Mitglieder sowie die Schilderungen der allgemeinen und individuellen Sozialisierungserfahrungen. Neben militärischem und schulischem Drill entfaltete eine sowohl in linken, als auch in konservativen sowie rechten Elternhäusern empfundene Distanz zwischen Kindern und Eltern offenbar starke Prägekraft. Jugendbewegte hatten eine ausgeprägte Sehnsucht nach einer gleichgesinnten Gemeinschaft.
Im dritten - und letzten - Kapitel beleuchtet Harms Umbruchserfahrungen wie den Ersten Weltkrieg und die Revolution und deren Auswirkungen auf die politische Einstellung. Besonderes Augenmerk schenkt sie dabei ihrer zentralen These, wonach die politische Sozialisation und Einstellung der Jugendbewegten im Kaiserreich stattgefunden habe und Fronterlebnis und Kriegserfahrungen dafür nicht so einschneidend gewesen seien wie bisher angenommen. Harms will damit insbesondere die androzentrische Sicht auf die Jugendbewegung, die das Fronterlebnis der jungen Männer in den Fokus rückte, aufsprengen.
Gerade durch die zunächst individuell begründete, dann kollektivbiografisch geweitete Analyse gelingt es Harms eindrücklich, die Formierung und Entwicklung der politischen Flügel in der bürgerlichen Jugendbewegung zu durchleuchten. Dabei zeigen sich überraschende Überschneidungen der politischen Ränder, aber auch Unterschiede, die Harms minutiös herausarbeitet. Während sowohl links als auch rechts vielfach ähnliche (Gemeinschafts-)Ideale verfolgt und gelebt wurden (Naturerlebnis, gemeinsamer Habitus, Jugendsprache), führte die konträre politische Ausrichtung doch teils zu tiefgreifenden Differenzen. Obwohl beide Lager die geltende Erziehungsmoral, insbesondere im Hinblick auf die Sexualität, als veraltet abgelehnten, kamen sie zu grundlegend unterschiedlichen Folgerungen: Während die Mitglieder der rechten Organisationen eine asexuelle Kameradschaft sowie Enthaltsamkeit propagierten und Partnerschaft und Ehe vor dem Hintergrund rassistischer Diskurse an Relevanz gewannen, gingen linke Mitglieder deutlich offener mit Sexualität um und propagierten sogar eine jugendliche Erotik. Auf jeden Fall führten in beiden Lagern die jugendbewegten Aktivitäten zu neuen Erfahrungs- und Austauschmöglichkeiten im Hinblick auf Sexualität und den Kontakt mit dem anderen, aber auch dem eigenen Geschlecht.
Unterschiedliche Haltungen gab es offenbar auch in der "Frauenfrage" - ein Aspekt, der angesichts des gendergeschichtlichen Ansatzes in der Studie etwas ausführlicher hätte behandelt werden können. Zwar knüpften die linksorientierten Organisationen bewusst Kontakte zur Frauenbewegung, etwa zu Gertrud Bäumer und Sylvia Pankhurst, und traten für die Emanzipation der Frau ein, doch rief die Frage nach der Beteiligung von Frauen und ihrer "geistigen Berufenheit" (128) auch unter den Linken immer wieder starke Uneinigkeit hervor. Im rechten Lager dagegen gab es lediglich Organisationen wie den Greifenbund, deren männliche Mitglieder von weiblichen Nicht-Mitgliedern allenfalls unterstützt wurden.
Insgesamt bestätigt Antje Harms in ihrer Studie das in der jüngeren Forschung herausgearbeitete Bild einer durchaus politischen, aber vor allem heterogenen Jugendbewegung. Angesichts der Tatsache, dass an zahlreichen Stellen der Untersuchung die herausgehobene Stellung des Ersten Weltkriegs für die Politisierung und Radikalisierung in der Jugendbewegung deutlich zutage tritt, vermag die von der Autorin eingangs aufgestellte These einer zu relativierenden Bedeutung der Kriegsgeschehnisse für solche Prozesse allerdings nicht ganz zu überzeugen. Gleichwohl hat Harms Recht, wenn sie die Bedeutung des Fronterlebnisses als Verengung auf männliche Jugendbewegte hinterfragt. Damit bietet ihre Studie zukünftigen Forscherinnen und Forschern gute Anknüpfungspunkte für eine weitere Diskussion über die Rolle der Umbruchs- und Krisenerfahrungen in der Jugendbewegung.
Anmerkung:
[1] Christian Niemeyer: Mythos Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch, 2., korrigierte Aufl., Weinheim 2018, und ders.: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel bis zur Hitlerjugend, Tübingen 2013.
Franziska Nicolay