Julia Paulus (Hg.): 'Bewegte Dörfer'. Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970-1990 (= Forschungen zur Regionalgeschichte; Bd. 83), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2018, 241 S., 49 s/w-Abb., ISBN 978-3-506-78804-7, EUR 49,90
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Auch wenn die Forschung durchaus schon seit einigen Jahren darauf aufmerksam macht, dass die Studentenbewegung der "68er Jahre" nicht nur in den Großstädten aktiv war und auch die neuen sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre im ländlichen Raum agierten, manchmal sogar hier ihren Anfang nahmen [1], mag wohl immer noch gelten, dass ein großer Teil der historischen Forschung vorrangig einen Fokus auf die "Bewegungszentren" wie West-Berlin oder Frankfurt am Main legt (187). Dieser "Beschränkung" (17) entgegenzutreten und das "Verhältnis zwischen mehreren, meist links-alternativen Gruppierungen, die in der Regel den 'Neuen sozialen Bewegungen' zugeordnet werden, und dem sie umgebenden [...] Raum auszuloten, der - auf die eine oder andere Weise - als Provinz attribuiert wurde" (13), ist Ziel des vorliegenden Sammelbandes. Dabei solle vor allem der "Terminus 'Provinz' bzw. 'Provinzialität' auf seine Bedeutungsinhalte hin" (12) überprüft werden. Der Band ist Ergebnis der Tagung "Neue soziale Bewegungen in der 'Provinz' (1970-1990)", die im Dezember 2014 in Münster stattfand und von Julia Paulus vom dortigen Institut für westfälische Regionalgeschichte organisiert worden ist.
Der Band nähert sich dem Begriff Provinz aus unterschiedlichen, manchmal ineinandergreifenden, manchmal aber nur schwer abzugrenzenden Perspektiven. Dies spiegelt sich in den drei teilweise prägnanten Zwischenüberschriften und dem Versuch einer thematischen Gruppierung der einzelnen Untersuchungen. So beschreiben die Beiträge des ersten Teils die "'Provinz' als Sehnsuchtsort" und fokussieren dabei auf die Versuche von Protestgruppen, sich die 'Provinz' als "'Kampfbegriff' einer gemeinsamen Gegenkultur" (13), als "politische Herausforderung und produktiven Erprobungsraum" oder als einen "Platz für Experimente" anzueignen. In seinem Fallbeispiel geht David Templin auf die Entwicklung eines Netzwerks ein, das unter dem Namen "Provinzbewegung" oder "Provinzarbeit" firmierte. Dabei legt der Autor den Fokus auf die Person Albert Herrenknecht, der das Netzwerk zu einer überregional agierenden Gemeinschaft von gleichgesinnten Initiativen weiterentwickelte. Templin und die Autorinnen und Autoren der anderen Beiträge dieses Teils unterstreichen die Bedeutung des "Begriff[s] 'Provinz'", mit dem nicht nur das Leben dort und das Verhältnis zwischen 'Stadt' und 'Land', Großstadt und Peripherie, in diesen alternativen Bewegungen verhandelt" (21) wurde, sondern mit dem eine dezidiert positiv konnotierte "Provinzidentität" (49) gestiftet werden sollte.
In Teil zwei, "Zwischen städtischer und 'provinzieller' Milieuanbindung", richten die Autorinnen und Autoren den Blick auf die Handlungsspielräume und die Begrenzungen, die sich für die Aktivistinnen und Aktivisten in der Provinz ergaben und auf die Kommunikation und Aushandlungsprozesse zwischen der Stadt und dem sie umgebenden ländlichen Raum. Der Beitrag von Hans-Gerd Schmidt zur 68er-Bewegung in der Provinz bildet dabei das Kontrastprogramm zu den vorausgegangenen Aufsätzen. Während die Akteurinnen und Akteure aus den Fallbeispielen des ersten Teils den Begriff Provinz durchweg positiv verwendeten und ihn zur Sinn- und Identitätsstiftung nutzten, ist Provinz für die Aktivistinnen und Aktivisten der Region Lippe negativ besetzt. Schmidt konstatiert, dass es den Protagonistinnen und Protagonisten in erster Linie um eine "'Entprovinzialisierung' der Provinz" (85) ging.
Der dritte und letzte Teil befasst sich mit dem "Ringen in der und um die 'Provinz'". Anhand der Selbstbilder verschiedener Bewegungen (Neue Frauen-, Jugendzentrums-, Studenten-, Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung) werden Abgrenzungsprozesse in und Austauschprozesse mit der Provinz thematisiert. Vor allem in diesem dritten Teil mag es verwundern, dass - obwohl es in diesem Sammelband um die Provinz geht - relativ häufig größere Städte wie Bochum, Mainz oder Wiesbaden Gegenstand der Untersuchung sind [2]. Gerade dies zeigt jedoch, dass sich der Begriff Provinz auch unabhängig von den gängigen räumlichen Zuschreibungen fruchtbar machen lässt, so wie im Beitrag von Ulf Teichmann, in dem Bochum und das Ruhrgebiet in der Studentenbewegung der "68er Jahre" untersucht werden. Der Autor operiert hier sehr gelungen und analytisch präzise mit dem Begriff der "Bewegungsprovinz" und entkoppelt die Provinz damit vom ländlichen Raum. In diesem Sinne seien Bochum und das Ruhrgebiet nämlich "[k]eine 'Provinz' im herkömmlichen Sinne" (187), vielmehr handele es sich durchaus um einen urbanen Raum. Da die Ruhr-Universität Bochum erst 1965 ihren Lehrbetrieb aufnahm, fehlten hier zunächst "universitäre und intellektuelle Traditionen" sowie "avantgardistische (Sub-)Kulturen" (187f.). Diese und auch die Studentenbewegung entwickelten sich daher nur mit zeitlicher Verzögerung und im intensiven Austausch mit den Zentren des studentischen Protests in West-Berlin oder Frankfurt am Main, wo man schon Erfahrungen mit verschiedenen Formen des Protests gemacht hatte und wo die Theorienbildung weiter fortgeschritten war. Spezifika der Bochumer Studentenbewegung seien laut Teichmann deren intensive Kontakte zu den Gewerkschaften und die Übernahme lokal relevanter Themen gewesen. Der enge Bezug der Bochumer Studierenden zum Arbeitermilieu im Ruhrgebiet habe diese wiederum interessant für die Studentenbewegung in den Zentren gemacht.
Insgesamt handelt es sich bei dem Band um eine interessante Sammlung einzelner Fallstudien zum Thema Protest in der Provinz. Er zeigt auf, dass sich das Beziehungsverhältnis zwischen Bewegungen in der Provinz und in der (Groß-)Stadt oft nicht darin erschöpfte, die großstädtischen Entwicklungen nachzuahmen. Vielmehr ging es den Aktivistinnen und Aktivisten darum, diese den örtlichen Gegebenheiten eigenständig anzupassen. Ebenfalls gelungen ist die Darstellung der verschiedenen Bedeutungsinhalte, die der Begriff Provinz haben konnte. Facettenreich beschreiben die einzelnen Beiträge die Provinz mal als "Sehnsuchtsort", der Gestaltungs- und Handlungsspielräume eröffnen oder als positives Gegenmodell zum großstädtischen Raum inszeniert werden konnte, mal als rückständigen, sich Veränderungen widersetzenden Ort, der entweder "entprovinzialisiert" oder verlassen werden musste. Wünschenswert wäre es gewesen, der Frage nach dieser "spezifischen 'Eigenlogik' von sozialen Bewegungen 'abseits der großen Zentren'" (13) weiter nachzugehen. Auch bleibt die Frage offen, welche allgemeinen Befunde zu den Protestbewegungen in der Provinz sich aus den einzelnen Studien ableiten lassen. Seinem Anspruch, darauf aufmerksam zu machen, "dass eine Beschränkung auf städtische Bewegungen eine offene Auseinandersetzung der verschiedenen Perspektiven verhindert wie auch eine Nivellierung kultureller und historischer Eigenheiten provoziert" (17), wird der Band auf alle Fälle gerecht.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Ulrich Eith: "Nai hämmer gsait!" - stilbildender ziviler Widerstand in Wyhl am Kaiserstuhl, in: Reinhold Weber (Hg.): Aufbruch, Protest und Provokation. Die bewegten 70er- und 80er-Jahre in Baden-Württemberg, Darmstadt 2013, 35-53.
[2] Vgl. Sebastian Dörfler: Rezension zu Julia Paulus (Hg.): "Bewegte Dörfer". Neue soziale Bewegungen in der Provinz 1970-1990, Paderborn 2018, in: H-Soz-Kult, 15.06.2018, www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-27932.
Anne Bieschke