Christian Dietrich: Im Schatten August Bebels. Sozialdemokratische Antisemitismusabwehr als Republikschutz 1918-1932, Göttingen: Wallstein 2021, 319 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-3787-9, EUR 34,90
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Die Studie von Christian Dietrich hat den sozialdemokratischen Abwehrkampf gegen den Antisemitismus im Zusammenhang mit der Verteidigung der Weimarer Republik zum Gegenstand. Ihr Autor nimmt darin verschiedene politische Ebenen und Quellengattungen in den Blick und leistet eine systematische Auswertung diverser Parteizeitungen und -programme, Tagungsprotokolle sowie sozialer und politischer Praktiken, um die Heterogenität der Sozialdemokratie angemessen zu reflektieren. Aus der äußerst sorgfältigen Analyse von Äußerungen der zeitweise zwei sozialdemokratischen Parteien - ein großer Teil der USPD-Mitglieder schloss sich 1922 wieder der Mehrheitssozialdemokratie an - gewinnt der Leser ein umfassendes Bild. Dieses wird durch den Blick auf das politische Agieren sozialdemokratisch geleiteter Ministerien als Intervention von oben sowie auf die Aktivitäten des 1924 gegründeten Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold als Ausdruck politischer Praxis von unten vervollständigt.
Dietrich rekonstruiert an vielen Stellen seiner Studie, wie die Antisemitismus-Interpretation August Bebels aus dem Jahr 1893 auch während der Weimarer Republik ein zentraler Bezugspunkt in der Deutung antisemitischer Invektiven war. Bebel hatte seinerzeit auf dem Kölner Parteitag erklärt, die antisemitische Kritik am "jüdischen Ausbeutertum" gehe fehl, weil die Gründe für die Ausbeutung in der kapitalistischen Verfasstheit der Gesellschaft zu suchen seien. Reaktionäre und konservative Gruppen setzten den Antisemitismus als politisches Instrument ein, so Bebel, um von sich abzulenken, eigene Machenschaften zu verschleiern und als Blitzableiter die Juden dem Volkszorn auszusetzen. Der gesellschaftliche Unmut diene womöglich der Sozialdemokratie, indem er dazu beitrage, dass sich vorher unpolitische Gesellschaftsschichten für das Thema soziale Ausbeutung interessierten. Dies sei aber kein Grund, wie Bebel ab 1906 verstärkt betonte, den Antisemitismus nicht mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Wie Dietrich betont, erkannten führende sozialdemokratische Parteifunktionäre schon während des Kaiserreichs die antiproletarische Stoßrichtung des Antisemitismus - Interventionen gegen die Judenfeindschaft lagen somit auch in ihrem eigenen Interesse. Dieses Eigeninteresse erweiterte sich mit der Etablierung der Republik, als die SPD von einer Oppositionspartei zur entscheidenden Trägerin des Staates wurde. Während der Antisemitismus, der nun in völkischen Massenbewegungen aufflammte, gegen den Staat auftrat und zur Revolte gegen die "Judenrepublik" mobilisierte, umfasste der sozialdemokratische Abwehrkampf gegen Antisemitismus fortan den Schutz der demokratischen Ordnung.
Ausführlich beschreibt der Autor die Konstituierung der SPD als tragende Säule der Republik und als Abwehrkraft gegen die Bedrohung des Antisemitismus, die zunächst vor allem von der DNVP, nach 1925 dann verstärkt von der NSDAP ausging. Zur Festigung dieser Rolle der SPD trug auch die anfängliche Abwesenheit des linken Parteiflügels (USPD) bei, ohne den die Mehrheitssozialdemokratie sich eher bereitfand, sozialen und kulturellen Fortschritt auch innerhalb des Kapitalismus anzustreben, während die USPD stärker an der marxistisch orientierten, internationalistischen Interpretation des Antisemitismus festhielt und "Klasse" als Kernbegriff ihrer Haltung dem Konzept von "Rasse" und "Nation" entgegenstellte.
Sozialdemokratische Strategien gegen den Judenhass bestanden in der Aufklärung und Widerlegung antisemitischer Mythen, in einer teils engen Kooperation mit jüdischen Organisationen wie dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und immerfort im Verweis auf soziale Interessen und Konflikte, von denen rechte Bewegungen abzulenken suchten. Bis Mitte der 1920er-Jahre sah die SPD ihre "Chancen der Republikverteidigung nicht in der direkten Konfrontation, sondern in der Gewinnung der bisher noch passiven Bevölkerungsschichten sowie der Immunisierung des eigenen Milieus gegen völkische Abwerbeversuche" (171).
Besonders verdienstvoll war dabei die Haltung von Sozialdemokraten, vor allem des linken Flügels der USPD, sich nicht allein schützend vor die Juden deutscher Staatsangehörigkeit, sondern ebenso vor die insbesondere in den frühen 1920er-Jahren heftigen Angriffen ausgesetzten "Ostjuden" zu stellen. Aber auch die MSPD hatte beobachtet, dass sich mit der völkischen Hetze gegen "Ostjuden" auch Zustimmung in katholischen, konservativen und liberalen Kreisen gewinnen ließ. Dietrich zeigt, wie über den Umweg der "Ostjuden" auch Angriffe auf Juden deutscher Staatsbürgerschaft lanciert wurden. Die Erkenntnis, dass Antisemitismus als politisches Mobilisationsmittel gegnerischer Parteien und völkischer Agitatoren diente, floss stark in die sozialdemokratische Abwehrarbeit ein.
Für das sozialdemokratisch geführte preußische Innenministerium zeichnet Dietrich gleichwohl ein ambivalentes Bild: Durch den zentralen Bezug auf das Staatsbürgerprinzip waren es lediglich Juden mit deutschem Pass, die vorbehaltlos auf die Solidarität und den Schutz der Republik und der Sozialdemokratie zählen konnten. Damit folgt Dietrich Befunden der bestehenden Forschung, in der im Umgang des Ministeriums mit "Ostjuden", etwa in der Praxis der Ausweisung auf Grundlage von Verdachtsmomenten anstatt von rechtskräftigen Verurteilungen, bereits eine restriktive Ausländerpolitik konstatiert wurde.
In einem weiteren Kapitel nimmt der Autor die Maßnahmen sozialdemokratischer Politik bis auf die Ebene der Lokalpolitik und des Straßenkampfs in den Blick, die allerdings oftmals wirkungslos blieben. Das Verbot von antisemitischen Zeitungen und Propagandapamphleten und die Strafverfolgung wurden durch das Fehlen starker republikanischer Kräfte in Verwaltung und Justiz erschwert. Im Gegensatz zur SPD-Parteiführung, die in dem sich verschärfenden Antisemitismus der Nationalsozialisten in erster Linie eine parlamentarische Bedrohung sah, schätzte in der zweiten Hälfte der 1920er-Jahre insbesondere das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold die Gefahr von rechts realistischer ein.
Hier wäre es interessant gewesen, von Dietrich mehr über die Anzahl körperlicher Auseinandersetzungen, gestörter Veranstaltungen und Kämpfe um den öffentlichen Raum zu erfahren; stattdessen werden - oftmals sehr detailliert - sich ähnelnde Bewertungen des Antisemitismus und seiner Ursachen aus Reichstagsreden und Schulungsmaterialien zitiert. Dietrich gibt zwar Hinweise auf einige spannende Details, geht diesen selbst aber nicht nach. So führt er eine 1931 eingerichtete "Terrorabwehrstelle" (230) an, die belastendes Material gegen die NSDAP gesammelt und ausgewertet habe. Ebenso wäre es gewiss erhellend gewesen, mehr über die erwähnten Berichte im "Vorwärts" zum Antisemitismus in der Sowjetunion und in der KPD zu erfahren.
Da Bebels Deutung des Antisemitismus für Sozialdemokraten zwar oftmals handlungsleitend war, diese in der Sache aber eher schlicht anmutet und Dietrich selbst mit Verweis auf Wolfram Pyta bilanziert, die SPD habe sich bei der Positionierung gegen den Antisemitismus weitaus schwerer getan als bei den wirtschafts- und sozialpolitischen Forderungen der Nationalsozialisten, hätte sich die Tragfähigkeit der Interpretation Bebels auch vom Autor diskutieren lassen.
Zudem hätte über einige beim Leser aufkommende Irritationen stärker aufgeklärt werden müssen: So stimmte die bayerische SPD 1930 einem Gesetz zu, das die Betäubungspflicht bei Tierschlachtungen einführte und damit praktisch die jüdisch-rituelle Praxis des Schächtens verbot. Wenn sich die Sozialdemokraten auch beeilten, sich von antisemitischen Absichten zu distanzieren, wurde die Tragweite der gerade auch von Völkischen und Nationalsozialisten betriebenen Propaganda gegen diese als besonders grausam denunzierte Form der Schlachtung nicht erkannt. Damit half die bayerische SPD dabei, einen faktischen und ganz massiven staatlichen Eingriff in die jüdische Glaubenspraxis und Religionsfreiheit herbeizuführen. Offensichtlich trug die sozialdemokratische Deutung des Antisemitismus als reaktionäre, antifortschrittliche Bestrebung nicht mehr, sobald judenfeindliche Agitationen in eine progressive Begründung eingekleidet waren.
Trotz der genannten Monita hat Christian Dietrich mit seinem Buch eine wertvolle, sorgfältig recherchierte und detailreiche Studie vorgelegt, die auch einen Beitrag zum Verständnis der politischen Bedrohung der Demokratie durch populistische und antidemokratische Bestrebungen in der Gegenwart zu leisten vermag.
Fabian Weber