Peder Anker: The Power of the Periphery. How Norway Became an Environmental Pioneer for the World (= Studies in Environment and History), Cambridge: Cambridge University Press 2020, XIII + 285 S., 9 s/w-Abb., ISBN 978-1-108-47756-7, GBP 75,00
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Norwegen ist in vielerlei Hinsicht Klassenbester. Es gehört verlässlich zu den demokratischsten und hinsichtlich seiner Sozialsysteme zu den großzügigsten Nationen weltweit. Auch mit seiner internationalen Vorreiterrolle hinsichtlich ökologischen Bewusstseins und umweltpolitischer Impulse glänzt es. Auf Spitzbergen finanziert Norwegen den größten Samentresor der Welt, um die Zukunft der Biodiversität zu sichern, es spielt eine einflussreiche Rolle in der globalen Umweltdiplomatie, und Oslo soll bis 2030 die erste CO2-neutrale Hauptstadt der Welt werden. Dieses positive Image korrespondiert mit den Bildern tiefer Fjorde und einsamer Fjälls.
Aber wie konnte es eigentlich dazu kommen, dass Norwegen - die Nation, die den Walfang industrialisierte und damit zu Beginn des 20. Jahrhunderts die beschleunigte Dezimierung der Meeressäuger einläutete, die auf die massive Ausbeutung von Rohstoffen wie Aluminium setzte, die wie kaum ein anderes Land seine Gewässer für die Stromgewinnung regulierte und seit über 50 Jahren zu den wichtigsten Öl- und Gasexporteuren der Welt gehört - zu einem Land mit grüner Ausstrahlung wurde, das den Anspruch erhebt, ein globaler Umweltpionier zu sein? Dieser Frage geht der norwegische Wissenschaftshistoriker Peter Anker nach. Sein Buch fokussiert auf die, so Anker, 30 entscheidenden Jahre zwischen 1962 - dem Erscheinen von Rachel Carsons bahnbrechendem Buch "Silent Spring", das auch in Norwegen eine neue umweltpolitische Ära einläutete - bis 1992, dem Jahr des Erdgipfels von Rio de Janeiro.
Die insgesamt neun Kapitel thematisieren die verschiedenen Strömungen und Schulen, die den norwegischen Pfad gesellschaftlicher Ökologisierung besonders geprägt haben. Zunächst skizziert Anker die sozial-ökonomischen Rahmenbedingungen früher ökologischer Diskurse. Diese wurden in der Nachkriegszeit von der Vorstellung einer ziemlich homogenen, standardisierten und wertkonservativen Gesellschaft, einer starken Sozialdemokratie mit Glauben an Wachstum und technischen Fortschritt und der Tradition des "friluftsliv" (dem Leben in der freien Natur) gerahmt. Der Autor skizziert in der Folge, wie verschiedene Wissenschaftszweige begannen, sich für Umweltbedingungen und Naturbeziehungen zu interessieren und diese zu ihrem Forschungsgegenstand zu machen, wobei die Einflüsse aus Anthropologie und Ethnologie besonders auffallen. Hierauf aufbauend untersucht Anker die akademische Etablierung der wissenschaftlichen Ökologie. Dafür nutzt er einen sozialgeschichtlichen Ansatz, der die Biografien, die räumlichen Beziehungen der Protagonisten und die Orte ihres umweltpolitischen Engagements näher beleuchtet. Dabei zeigt sich immer wieder die Bedeutung transnationaler Impulse, so etwa des amerikanischen Ökologen Eugene P. Odum. Von Odums Forschungen beeinflusste Norweger (die Netzwerke waren zunächst männlich dominiert) bauten zwischen der Hauptstadt und Bergen die Forschungsstation Finse auf, die als Erfahrungsort stil- und identitätsbildend für Generationen von Naturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern werden sollte. Die Teilnahme Norwegens am Internationalen Biologischen Programm, einem wichtigen Motor der transnationalen Vernetzung biologischer Systemforschung, ging mit staatlichen Investitionen in den Ausbau naturwissenschaftlicher Infrastrukturen einher.
Sehr viel Raum nimmt die Entstehung der Deep Ecology ein, die als Strömung der Philosophie und Ethik eng mit dem Namen Arne Naess verbunden ist. Anker eröffnet in seinem Buch den Blick auf eine viel breitere Gemenge- und Personenlage. Nicht nur Naess, sondern auch Mitstreiter wie Sigmund Kvaløy waren begeisterte Bergsteiger und brachten aus ihren Erfahrungen in Nepal Vorstellungen von ausgeglichenen Mensch-Natur-Beziehungen mit, die sich mit ökologischen Konzepten von Gleichgewicht zu treffen schienen. Die Philosophie des Respekts im Umgang mit der Natur entwickelten sie in einfachen Hütten der norwegischen Bergwelt - mit dem Panorama einer großen und "ungezähmten" Natur als Gegenüber. Diese Ökophilosophie basierte auf binären Begrifflichkeiten: Eine "schwache Ökologie" der auf Wachstum basierenden Industriegesellschaft wurde mit einer "tiefen Ökologie" kontrastiert, die auf dem respektvollen und angepassten Umgang mit den natürlichen Gegebenheiten basiert. Anker legt minutiös die Netzwerke der Deep-Ecology-Vertreter frei und erklärt anschaulich, wie sie sich in der akademischen Welt Platz verschafften, Lehrpläne beeinflussten und gegenüber den traditionellen Fortschrittsentwürfen sozialdemokratischer Taktgeber an Einfluss gewannen.
Anker erzählt auch eine Geschichte von Konjunkturen und Paradigmenwechseln. Als beispielweise die Deep Ecology zu Beginn der 1980er Jahre im norwegischen Diskurs an Bedeutung verlor, wurde sie in den USA gerade erst als Ideengeberin entdeckt - unter anderem von der sich radikalisierenden, teilweise militanten Bewegung "Earth First!".
Besonders interessant ist schließlich auch die Rolle und das strategische Agieren der Spitzenpolitikerin Gro Harlem Brundtland, die - zunächst als Umweltministerin, dann als Ministerpräsidentin - Anstöße der Deep Ecology aufnahm, sie zugleich sozialdemokratisierte und mit internationalen Umweltdiskursen verband. Sie wurde zu einer der wichtigsten Umweltdiplomatinnen der Welt, als sie mit dem sogenannten "Brundtland Report" 1987 das Konzept der "Sustainability" als politische Zukunftsverpflichtung in globale Debatten einspielte und so 1992 die Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro prägte.
Anker gelingt es, die unterschiedlichen Strömungen, die entscheidenden Orte der Identitäts- und Stilbildung der "Scholar-Activists", die Verwobenheit der Netzwerke und Akteure plastisch darzustellen. Er setzt sie in Beziehung zu norwegischen Spezifika - wie zum Beispiel das pietistische Element des lutherisch-evangelisch geprägten Norwegens, das die Neigung zur missionarischen und moralischen Aufladung der Umweltfrage verstärkte. Die Lage am Rand Europas und die tiefe Skepsis gegenüber dem Projekt der Europäischen Union, die Mitgliedschaft in der Nato, die Konfrontationsstellungen des Kalten Krieges - all das prägte auch die ökologische Debatte.
Die Peripherie ist bekanntlich vor allem eine Frage der Perspektive - aus binneneuropäischer Sicht liegt Norwegen eindeutig am Rand. Aber auch innerhalb des Landes gibt es jede Menge Peripherie. Diese Räume des Randes können aber Strahlkraft und Macht entwickeln: Als imaginierte Räume des anderen und eigentlichen Norwegens, aber auch als politische Mitspieler. Das zeigt Anker überzeugend und skizziert mit seinem inspirierenden und elegant geschriebenen Buch eine Genealogie des norwegischen ökologischen Denkens. Sein nationaler Fokus lässt komparative Elemente weitgehend außen vor, aber er liefert eine erhellende Folie, um die spezifischen Entwicklungen mit denen anderer Länder zu vergleichen. Nicht zuletzt spiegelt sich im norwegischen Fall par excellence die tiefe Widersprüchlichkeit der Länder des globalen Nordens wider, deren aktuelles Transformationsengagement auf einen Reichtum zurückgreift, der auf der Nutzung fossiler Brennstoffe basiert. Den Leserinnen und Lesern sei die Konsultierung von Karten und Bildstrecken zur Topographie und Natur Norwegens empfohlen - das Buch hätte eine reichere visuelle Ausstattung verdient.
Anna-Katharina Wöbse