Cecilia Gaposchkin (ed.): Vexilla Regis Glorie. Liturgy and Relics at the Sainte-Chapelle in the Thirteenth Century (= Sources d'Histoire Médiévale; 46), Paris: CNRS Éditions 2021, 346 S., 4 s/w-Abb., ISBN 978-2-271-14332-7, EUR 65,00
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Michèle Gaillard / Monique Goullet (éds.): Hagiographies. Histoire internationale de la littérature hagiographique latine et vernaculaire en Occident des origines à 1550. International History of the Latin and Vernacular Hagiographical Literature in the West from its Origins to 1550, Turnhout: Brepols 2020
Tim Ayers / Maureen Jurkowski (eds.): The Fabric Accounts of St Stephens Chapel, Westminster, 1292-1396, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2020
Brigitte Galbrun / Véronique Gazeau: L'abbaye de Savigny (1112-2012). Un chef d'ordre anglo-normand, Rennes: Presses Universitaires de Rennes 2019
Im Jahr 1248 wurde die Privatkapelle des französischen Königs, Ludwigs IX. (1214-1270), feierlich geweiht. Im Herzen des Königspalastes auf der Pariser Île de la Cité gelegen, war sie mehr als ein Oratorium, in dem der König seinen gottesdienstlichen Verpflichtungen nachkommen konnte. Konzipiert wurde sie als Heimstatt der wertvollsten Reliquiensammlung des Abendlands. Prunkstück war dabei ohne jeden Zweifel die Dornenkrone Christi. Ludwig IX. hatte von den politischen Verwerfungen des Lateinischen Kaiserreichs von Konstantinopel profitiert. Auch nach der Plünderung der Stadt durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204 waren dort immense Reliquienmassen im Kaiserpalast verblieben - und diese mussten nun zwecks militärischer Stabilisierung des fragilen politischen Gebildes zu Geld gemacht, besser: veräußert werden, denn der Verkauf von Reliquien war nach geltendem Kirchenrecht strengstens verboten. Die Dornenkrone gelangte 1239, zwei weitere Reliquienlieferungen in den Jahren 1241 und 1242 nach Paris. Die Fülle von an einem einzigen Ort versammelten Christusreliquien war einzigartig und wurde nicht nur von Ludwig IX., sondern von allen weiteren Kapetingerkönigen propagandistisch zur Legitimierung der eigenen Königsherrschaft instrumentalisiert.
Von besonderer Bedeutung war die in der Sainte Chapelle gefeierte Liturgie, die einige Besonderheiten aufwies. Zum Gedenken an die Ereignisse wurden einige neue Feste eingeführt, darunter das Dornenkronenfest am 11. August und das Fest der "Ankunft der Reliquien" (susceptio reliquiarum) am 30. September. Ersteres wurde innerhalb der Erzdiözese Sens (zu der der Bischofssitz Paris gehörte) breit promulgiert, letzteres scheint die Grenzen des Pariser Hofes jedoch kaum überschritten zu haben. Die Dominikaner wurden mit der Feier der Liturgie am 11. August betraut, den Franziskanern oblag die Ausgestaltung des Festtags am 30. September. Die Zuweisung an die jeweiligen Bettelorden verdankt sich der Erwerbsgeschichte: die Dornenkrone war von Dominikanern, die Kreuzesreliquien von Franziskanern in den Westen überführt worden. Für diese Feste entstanden neue Mess- und Offiziumsformulare.
Geplant war ursprünglich eine ausführlichere Analyse der Handschrift Brüssel, Koninklijke Bibliotheek IV.472, die deshalb von allergrößter Bedeutung ist, weil sie die in der Pariser Sainte Chapelle um 1248, also zum Zeitpunkt der Weihe, gefeierte Liturgie überliefert. Nach und nach richtete sich dann der Blick aber auf weitere Handschriften (Bari, Archivio della Basilica di San Nicola, ms. 3, ms. 5.), in denen die Liturgie der Sainte Chapelle, die sich von Anbeginn an außerordentlich komplex präsentierte, enthalten war. Die vorliegende Studie widmet sich nun also diesen Texten und den Handschriften, in denen sie überliefert sind. Niemand ist für diese Arbeit einschlägiger ausgewiesen als Cecilia Gaposchkin, die im Dartmouth College lehrende amerikanische Mediävistin, der die Forschung bereits maßgebliche Monographien zur Zeit Ludwigs IX. verdankt. [1] Ziel der vorliegenden Arbeit war es, sämtliche relevanten Texte im lateinischen Original mit englischer Übersetzung zur Verfügung zu stellen. Sie finden sich in den vier Anhängen zur Arbeit (I. Inhalt der Handschrift Brüssel KBR IV. 472; II. Vergleichende Darstellung von Adest Nova: Sainte Chapelle, Paris, Sens (mit drei Editionen); III. lateinischer Text und Übersetzung der Dornenkronen-Liturgie an der Sainte Chapelle; IV. Text und Übersetzung der Liturgie zum Fest susceptio reliquiarum an der Sainte Chapelle). Vorgeschaltet ist eine Analyse der in den Lektionen und Sequenzen behandelten Themen samt den ihnen zugrundeliegenden frömmigkeitsgeschichtlichen, theologischen und politischen Ideen und Implikationen. Gaposchkins Arbeit entstand zeitgleich mit Yossi Maureys Arbeit über die Sequenzen der Sainte Chapelle, der sie wertvolle Anregungen verdankt. [2] Beide Arbeiten - ein wissenschaftlicher Glücksfall - ergänzen sich gegenseitig aufs Trefflichste.
Gaposchkin beginnt, wie könnte es anders sein, mit einer Geschichte der Verlagerung der Passions- und anderer Reliquien vom Bosporus an die Seine und weiß einiges Interessante auch zur Geschichte der Reliquien in Konstantinopel vor dem Transfer zu sagen. Zwar diente die konstantinopolitaner Palastkapelle als Reliquienhort, doch scheuten sich die byzantinischen Kaiser nicht, Heiltum bei Bedarf zu verpfänden, so etwa an die Templer oder die vor Ort ansässigen Zisterzienserinnen. Der Erwerb der Dornenkrone wird als das gekennzeichnet, was er war: "[...] a major coup for its power as the central symbol of Christ's kingship, upon which all claims of sacral (earthly) kingship rested" (22).
Gezeigt wird, wie stark die in der Sainte Chapelle gefeierte Liturgie im intellektuellen Milieu von Paris verankert war: "It is dense and extremely sophisticated, packed with complex scriptural images and theological ideas" (81). Sie gründet in Schriftmeditationen über die Rolle der Dornenkrone innerhalb der Heilsgeschichte. Sie feierte das Phänomen der Königsherrschaft in allgemeinen Worten. Tatsächlich taucht "Frankreich" als Königreich im liturgischen Formular explizit nur an einer Stelle auf, doch auch die topographische Schärfung des Begriffs nostra regio mag in diese Richtung weisen - nach Frankreich, in den Königspalast und die Sainte Chapelle.
Von großer Bedeutung sind die für das Dornenkronenfest konzipierten Offiziumslesungen (lectiones), einer zeitgenössischen Predigt entnommen, in der ausgehend von Psalm 135,25 die mystischen Eigenschaften der Dornenkrone entfaltet wurden. Die gesamte Liturgie, mithin Messe und Offizium, kann als eine Art Kommentar zur Verbindung dreier Kronen untereinander verstanden werden - der Königskrone der Israeliten, der Dornenkrone Christi und der Krone der Vollendung am Ende der Zeiten: "The crown is one of those temporal nodes upon which history builds into eschatology" (91).
Das liturgische Formular für das Reliquienfest (30. September), entstanden nach 1242, aber vor 1248, geht wohl auf einen anderen Autor zurück. Es zeigt sich sehr viel stärker dem sensus litteralis verbunden und scheut den Sprung hin zu anderen Sinnebenen. Auch hier scheinen die Lektionen, so die These Gaposchkins, auf eine Predigt über Ps 134,13 zurückzugehen. Das ist tatsächlich wahrscheinlich, zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht mit letzter Sicherheit nachzuweisen. 16 der 22 in der Königskapelle verehrten Reliquien werden nacheinander abgehandelt und deutlich wird: Ihre zentrale Rolle innerhalb der Heilsgeschichte strahlt auf die Geschicke der Könige im Allgemeinen, derjenigen Frankreichs im Besonderen aus. Reliquien sind Waffe und Schutzpanzer zugleich.
Die Analyse des liturgischen Materials verdeutlicht, wie sehr das kapetingische Königtum im Reliquienschatz der Sainte Chapelle an das Königtum Christi gebunden wurde. Liturgie fungierte in diesem Fall freilich nur als ein Medium unter vielen: Architektur, (Glas-)Malerei, Goldschmiedekunst, Skulptur, Ikonographie, Historiographie, Handschriften, Liturgien und Predigten konstituierten ein im Abendland einzigartiges Gesamtkunstwerk.
Gaposchkin hat mit ihrer Analyse des liturgischen Materials eine Quellengattung zum Sprechen gebracht, deren Aussagekraft für die Geschichtswissenschaft immer wieder neu (und in diesem Fall ausgesprochen erfolgreich) betont werden muss. Dass die Ergebnisse anhand des lateinischen Textes und der englischen Übersetzung immer auch nachgeprüft werden können, ist als zusätzlicher Pluspunkt zu werten: Eine willkommene Ergänzung der Forschungen zu Ludwig IX. und seinen Vorstellungen von sakralem Königtum.
Anmerkungen:
[1] M. Cecilia Gaposchkin: Invisible Weapons. Liturgy and the Making of the Crusade Ideology, Ithaca 2017; M. Cecilia Gaposchkin: The Making of Saint Louis. Kingship, Sanctity and Crusade in the Later Middle Ages, Ithaca 2008. Zu den Monographien gesellt sich eine Fülle thematisch einschlägiger Artikel.
[2] Yossi Maurey: Liturgy and Sequences of the Sainte-Chapelle. Music, Relics, and Sacral Kingship in Thirteenth-Century France (Cultural Encounters in Late Antiquity and the Middle Ages, 35), Turnhout 2021.
Ralf Lützelschwab