Evelien Timpener: In Augenschein genommen. Hessische Lokal- und Regionalkartographie in Text und Bild (1500-1575) (= bibliothek altes Reich (baR); Bd. 38), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2022, VIII + 198 S., 27 Kt., ISBN 978-3-11-077755-0, EUR 59,95
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Oberflächlich betrachtet könnten raumzeitlicher Zuschnitt des Themas und Umfang der Monographie Leser:innen dazu verleiten, eine Arbeit von bedingt universeller Transzendenz zu vermuten und - so man nicht spezifisch zum frühneuzeitlichen Hessen oder Kartographiegeschichte forscht - dieser wenig Beachtung zu schenken. Nach Meinung des Rezensenten würde man dadurch jedoch eine Gelegenheit auslassen. Evelien Timpener legt mit ihrem Buch eine Arbeit vor, die Licht in gleich zwei unzureichend ausgeleuchtete Bereiche der Betrachtung von historischen Karten im zentraleuropäischen Kontext bringt und damit auch über den eigentlichen Kernbereich der Untersuchung hinaus befruchtend wirken könnte und auch sollte. Das ist erstens die Beschäftigung mit handschriftlichen Karten jenseits der kartesischen Logik und mit einem kleinräumigen Darstellungsbereich überhaupt, denn europäische Kartographiegeschichte widmet sich sehr häufig systematischen Landesaufnahmen oder gedruckten Karten. Zudem weicht die Autorin damit von dem verbreiteten Paradigma ab, frühneuzeitliche Karten hauptsächlich als Vorläufer moderner Karten zu interpretieren und somit letztlich als defizitäre Medien, anstatt als eigenständige, ihrem Handlungskontext angepasste Dokumente. Die zweite Lücke betrifft die oft fehlende Einbettung der Karten in den komplexeren Quellenverband, mit dem diese in ihrem historischen Verwendungszusammenhang als Teil von Handlungswissen kausal verquickt waren. Diese Wechselwirkungen werden nur zu oft ignoriert - entweder wird die Karte als isoliertes Element analysiert oder aber lediglich aus illustrativen Gründen zur Behübschung abgedruckt.
Mit der Korrektur dieser Betrachtungsweisen leistet Timpener der europäischen Historiographie entscheidende Entwicklungshilfe, denn ironischerweise verringert sich der Innovationswert des Ansatzes, wenn man über den europäischen Tellerrand blickt. Bei der Erforschung indigener Kartographie ist man schon lange davon abgerückt, diese als mangelhafte Versuche einer "wirklichkeitsgetreuen, geometrischen Darstellung" zu betrachten. Im europäischen Kontext findet man solche Ansätze vor allem im Zusammenhang mit den mappae mundi des Mittelalters und ihrer ausgeprägten eschatologischen Aufladung, oder zumindest als charakteristisch für eine Vormoderne. [1] Dass Visualisierungsformen wie die von Timpener untersuchten "Kartenskizzen" und "Augenscheinkarten" (ein zentraler Begriff im Buch) durchaus in moderne praxeologische Kontexte einordenbar sind, ist in der Geschichtsforschung "außereuropäischer" Bereiche und besonders unter Historiker:innen des globalen Südens viel selbstverständlicher.
Das Buch setzt sich zusammen aus einem analytischen Teil von 132 Seiten, dem bibliographischen Apparat mit zwölf Seiten, drei Seiten Index und 45 Seiten Anhang. In diesem Anhang werden 24 Lokal- und Regionalkarten vorgestellt, wobei bis auf wenige Ausnahmen die Karte selbst in Farbe auf einer Seite abgebildet ist, während eine weitere Seite den Bildnachweis liefert und mit den Abschnitten "Kartenbeschreibung" und "Entstehung und Überlieferungskontext" eine innere sowie äußere Quellenkritik bereitstellt. Auf die Karten in diesem Anhang wird im analytischen Teil verwiesen, während dort selbst nur drei kleinere Abbildungen eingeflochten sind. Diese Aufteilung ist schlüssig und erspart den Leser:innen mühsame Suchen, da Verweise auf ein und dieselbe Karte an sehr unterschiedlichen Stellen im Buch vorkommen und umgekehrt einzelne Elemente auf verschiedenen Karten an derselben Stelle referenziert sind.
Die hohe Anzahl farbiger Abbildungen ist löblich, allerdings ist die Lesbarkeit aufgrund des kleinen Formats des Buches (etwa A5) vielfach doch sehr eingeschränkt. Das ist besonders schade, da die Elemente der Karten ja wesentlicher Bestandteil der Ausführungen sind, die Abbildungen jedoch durch die fehlende Erkennbarkeit wieder teilweise auf die illustrative Funktion zurückgedrängt sind. Das war wahrscheinlich nicht die Intention der Autorin und mag als allgemeiner Aufruf des Rezensenten in Richtung Verlage und Autoren (und als Erinnerung für ihn selbst) gedeutet werden, diesem Aspekt des Produktionsprozesses mehr Beachtung zu schenken, denn diese Kritik lässt sich leicht auf die Mehrheit der Publikationen anwenden, in denen Abbildungen eine wichtige Stellung einnehmen.
Die Argumentationen in den einzelnen Abschnitten sind konsequent und nachvollziehbar, der Schreibstil unschwülstig, was den Lesefluss ungemein begünstigt. Allerdings gehen die meisten Ausführungen auch nicht besonders in die Tiefe oder überraschen mit speziell Intellekt-anregenden Volten. Sie sind "handwerklich gut", was aber nicht unbedingt ein Manko sein muss. Dasselbe Urteil kann man auch über den Aufbau der Einleitung fällen. Darin wird - wenig aufregend aber ordentlich - eine quellenkundliche Einordnung geboten, danach der Forschungsstand skizziert und zuletzt die Fragestellungen und Methodik vorgestellt.
Wenn man einen wirklichen Schwachpunkt der Arbeit sucht, so findet man ihn eventuell in der Anordnung der Kapitel. Der Einleitung folgt ein etwas heterogener Block (Form und Funktion der Kartographie im Kontext), in dem in einem Abschnitt Kartenelemente in den ausgewählten Karten verglichen werden, in einem weiteren exemplarisch einige frühere mit späteren Karten, und zuletzt Kunsttechniken untersucht werden. Hier löst sich der erwähnte Anspruch einer wirklich verschränkten Analyse im Funktionszusammenhang und Quellenverband noch nicht ein. Das bietet erst der zweite große Block "Von der Inaugenscheinnahme zur Karte. Das Verhältnis zwischen Text und Bild", in dem die Funktion der Karten im Zusammenhang mit Rechtsstreitigkeiten mit der Art der Darstellungen in den Blick genommen werden. Erst dieser Teil liefert eigentlich jenen Kontext, der den Vergleich von Kartenelementen gehaltvoll aufwerten würde. Da die beiden Blöcke argumentativ nicht wirklich verwoben beziehungsweise aufbauend sind, lässt sich diese Schwäche aus Sicht des Rezensenten tatsächlich client-seitig beheben, indem die Lesereihenfolge einfach invertiert wird.
Als Fazit bleibt eine gut lesbare, im Umfang übersichtliche historische Monographie, der an einigen Stellen vielleicht etwas kantigere Aussagen oder feinere Beobachtungen gutgetan hätten. Das Potenzial dazu wäre da, gelingt Timpener aus Sicht des Rezensenten doch über die eigentliche Studie hinaus ein Beitrag zur "Provinzialisierung Europas", indem zentraleuropäische "Lokal- und Regionalgeographie" aus dem modernistischen Diskurs losgelöst in Augenschein genommen wird. Paradoxerweise gelingt dies möglicherweise sogar gerade durch das Fehlen eines ehrgeizigen Theorieanspruchs, da sich diese dekoloniale Interpretationsmöglichkeit aus den Darstellungen quasi von selbst ergibt und nicht durch ein prädeterminiertes emanzipatorisches Erkenntnisinteresse den Leser:innen aufoktroyiert wird.
Anmerkung:
[1] Veranschaulicht etwa im Titel des Sammelbandes Jürg Glauser / Christian Kiening (Hgg.): Text - Bild - Karte. Kartographie der Vormoderne, Freiburg 2007.
Werner Stangl