Adolf Kimmel: François Mitterrand, Stuttgart: W. Kohlhammer 2022, 217 S., 13 s/w-Abb., ISBN 978-3-17-040094-8, EUR 29,00
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François Mitterrand hatte eine seiner letzten Schriften Deutschland gewidmet: Unter dem Titel "De l'Allemagne, de la France" (1996) ließ er im Gespräch mit Elie Wiesel seine Beschäftigung mit dem Nachbarland Revue passieren, von der Zwischenkriegszeit über seine eigene Erfahrung als Soldat und Kriegsgefangener, die französisch-deutsche Annäherung nach 1945 bis hin zu seiner eigenen Rolle bei der Vereinigung 1989/90. Deutsche Historiker haben seitdem dem vierten Präsidenten der V. Republik weder besonderes Interesse noch Wohlwollen entgegengebracht: So ist seit den 1980er Jahren kein biographisches Werk zu Mitterrand mehr auf Deutsch erschienen und die existierenden thematischen Studien gehen oft sehr kritisch mit dem Präsidenten, insbesondere mit seiner Rolle bei der deutschen Vereinigung, ins Gericht. So ist es erfreulich, dass der Politologe und ausgewiesene Frankreich-Experte Adolf Kimmel nun eine Biografie Mitterrands verfasst hat.
In einem ersten Kapitel geht es um die ersten drei Jahrzehnte im Leben Mitterrands, seine Jugend in einer gutbürgerlich-katholischen Familie der Charente, seine Studienjahre im Paris der krisenhaften 1930er Jahre und seinen windungsreichen Weg durch die Jahre 1940 bis 1945 vom überzeugten Pétainisten zu einer wichtigen Figur des Widerstands. Irreführenderweise steht dieses Kapitel unter dem Titel "Die Jahre vor der Politik", wird doch umgehend deutlich, dass Mitterrand sich schon früh für Politik interessiert und engagiert hatte. Das nächste Kapitel widmet sich der erfolgreichen Karriere Mitterrands als praktisch andauernder Minister in den verschiedenen Kabinetten der IV. Republik, bevor es im dritten Kapitel um seine Tätigkeit als führender Linksopponent zur regierenden gaullistischen und bürgerlich-liberalen Rechten in der V. Republik geht. Die beiden umfangreichsten Kapitel befassen sich mit den zwei Präsidentschaftsmandaten (1981-1988 und 1988-1995), das erste geprägt von dem bald abgebrochenen Experiment einer sozialistischen Umgestaltung, das zweite von der Zeitenwende des Jahres 1989 und den Fortschritten der europäischen Integration. In einem Schlusskapitel unter dem Titel "Was bleibt?" unternimmt Kimmel den Versuch, die Bilanz dieses außerordentlichen Politikerlebens zu ziehen.
Positiv hervorzuheben ist Kimmels Würdigung der Ministerzeit Mitterrands, in der insbesondere seine Rolle als Kolonialpolitiker sowie als Innen- und Justizminister während des Algerienkriegs mit der nötigen Ausführlichkeit und Deutlichkeit im Urteil analysiert wird. Ebenso wird der Leser umfassend über die verschiedenen Politikbereiche informiert, mit denen sich Mitterrand während seiner Präsidentschaft befasste. Auch wird Kimmel der konstruktiven Rolle des Präsidenten in der Periode der deutschen Wiedervereinigung gerecht und betont dessen Engagement für die europäische Integration, das sich wie ein Leitmotiv durch sein Politikerleben zieht. Zahlreiche politische Positionen hat Mitterrand im Laufe seines Lebens revidiert, nicht aber seine tiefsitzende Überzeugung, dass Frankreichs Zukunft in der europäischen Einigung lag.
Kritisch wäre anzumerken, dass Kimmel dem in der Einleitung gesetzten Anspruch an eine Biographie Mitterrands nur unvollkommen gerecht wird. So stellt er insbesondere in den ersten Abschnitten zu wenig Informationen über den historischen Kontext bereit, die es dem Leser ermöglichen würden, die Werthaltungen und Entscheidungen Mitterrands zu beurteilen. Wie repräsentativ waren seine (rechten) politischen Überzeugungen im Frankreich der 1930er Jahre? Und wie ist seine Option für Pétain in den ersten Jahren der Besatzungszeit im historischen Kontext zu bewerten? Welche Handlungsalternativen standen ihm offen? Auch in den Abschnitten über Mitterrands Präsidentschaft kommen die großen politischen Debatten der damaligen Zeit, wie etwa über die soziale Ausgrenzung, die Integration von Einwanderern und die Entwicklung der V. Republik hin zu einer Republik der Mitte kaum zur Sprache.
Ebenso unternimmt Kimmel nicht wirklich den Versuch, die Persönlichkeit Mitterrands seinen Lesern nahezubringen. Vielmehr schließt er sich denjenigen an, die den Präsidenten für eine "schwer greifbare Persönlichkeit" halten und zitiert zustimmend den "Spiegel" aus dem Jahre 1996, der ihn als einen "Mann der hundert Masken und tausend Facetten" (183) bezeichnete. Dabei ist mittlerweile umfassendes biographisches Material zugänglich, das es einem erlaubt, hinter diese Masken zu sehen, wie etwa Mitterrands Briefe an seine Geliebte Anne Pingeot oder sein umfangreiches, für sie verfasstes Tagebuch, das nicht im Literaturverzeichnis auftritt. [1] Diese Dokumente bieten nicht nur Aufschluss über seine Gedankenwelt, sondern auch über seinen Lebenswandel, seine Lektüren, seine menschlichen Beziehungen. Anstatt zu versuchen, anhand von Quellen wie diesen die Persönlichkeit Mitterrands zu entschlüsseln, bemüht Kimmel den mittlerweile recht abgedroschenen Vergleich mit Charles de Gaulle, aus dem letzterer als Sieger hervorgeht: Im Gegensatz zu Mitterrand sei de Gaulle eine "majestätische, unbeugsame, nach den Maßstäben der öffentlichen Moral nicht zu tadelnde Gestalt" gewesen (182). Dass gerade de Gaulle bereit war, im Dienste der Staatsräson und dem eigenen Machtinteresse Menschenrechte, Verfassung und internationale Abmachungen über den Haufen zu werfen, bleibt hier unberücksichtigt. Zahlreiche kleine sachliche Fehler trüben überdies den Eindruck von diesem Buch: So war de Gaulle im Mai 1968 nicht etwa "ein paar Tage ohne Erklärung aus der Öffentlichkeit verschwunden" (75), sondern nur für einige Stunden; das "Revenu minimum d'insertion" war kein "Eingliederungsgeld, um Arbeitslosen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern" (146), sondern eine Sozialleistung zur Bekämpfung der Armut; die Regierungsbeteiligung der Kommunisten hielt nicht bis 1986, sondern endete bereits 1984 mit dem von Laurent Fabius angeführten Kabinett (179). Sieht man von diesen Kritikpunkten ab, bietet Adolf Kimmel eine informative Einsicht in wichtige Phasen der französischen Politik der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine umfassende, zeitgemäße deutschsprachige Biographie François Mitterrands bleibt aber auch nach Erscheinen dieses Buchs ein Desiderat.
Anmerkung:
[1] Vgl. François Mitterrand: Lettres à Anne 1962-1995, Paris 2016; ders.: Journal pour Anne 1964-1970, Paris 2016.
Matthias Waechter