Maurice Vaïsse / Christian Wenkel: La diplomatie française face à l'unification allemande, Paris: Tallandier 2011, 398 S., ISBN 978-2-84734-744-9, EUR 25,36
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Mythen seien langlebig, schreiben die beiden Herausgeber in ihrer Einleitung zu dieser Edition bislang unveröffentlichter französischer diplomatischer Dokumente aus den Jahren 1989 und 1990. Gemeint ist in diesem Falle der Mythos - besser gesagt: die Legende - von einem François Mitterrand, welcher die deutsche Vereinigung weder begrüßte noch aktiv förderte, sondern vielmehr zu verzögern, wenn nicht gar zu unterbinden suchte und sich erst spät mit der Einheit Deutschlands abfinden konnte. Dass diese Auffassung in der Tat äußerst langlebig ist, hat die vor kurzem erschienene Studie Ulrich Lappenküpers zu Mitterrand und Deutschland bewiesen. Der französische Präsident, so Lappenküper, habe nach dem 9. November 1989 an der Idee zweier deutscher Staaten festgehalten und immer weitere "Hürden" errichtet, um deren Vereinigung zu erschweren. [1]
Die von Maurice Vaïsse und Christian Wenkel vorgelegte Aktenedition ist nur mit Einschränkung dazu geeignet, die These von einem vereinigungsskeptischen Mitterrand zu überprüfen. Die Herausgeber räumen dies in ihrer Einleitung auch ein. Da sie nicht die Genehmigung erhielten, Dokumente aus dem Mitterrand-Nachlass abzudrucken, enthält die Quellensammlung weder Aufzeichnungen des Präsidenten noch Dokumente aus seinem Beraterstab. So beschränkt sich die Edition auf Berichte französischer Diplomaten, insbesondere aus Bonn, Ost-Berlin und den Hauptstädten der vier Schutzmächte sowie auf Studien aus dem Quai d'Orsay. Vor diesem Hintergrund lassen sich anhand der abgedruckten Quellen die Gedankengänge und Entscheidungsprozesse des Präsidenten kaum nachvollziehen. Dennoch bietet das Buch einen höchst instruktiven Einblick in die französische Wahrnehmung der Ereignisse seit dem 9. November 1989. Dabei ragen die Berichte von Joëlle Timsit, der letzten französischen DDR-Botschafterin heraus, welche die Lage in Ostdeutschland differenziert einzuschätzen vermochte, vielseitige Kontakte zu Vertretern der Opposition unterhielt und ein äußerst realistisches Bild von den geringen Chancen, ein selbstständiges Ostdeutschland zu erhalten, vermittelte.
So wurde französischen Diplomaten frühzeitig deutlich, dass die Entwicklung seit dem 9. November auf eine Vereinigung der beiden Staaten zulief. In einem Telegramm des Quai d'Orsay vom 14. November 1989 hieß es, der Präsident wolle den Eindruck zerstören, dass Frankreich "aus Prinzip die Teilung Deutschlands suche. In der Vergangenheit habe es [i.e. Frankreich] nicht ohne Grund daran festgehalten. Dieses Stadium sei nun überholt". (114) Am 5. Dezember 1989 schrieb Jacques Blot, der Europa-Direktor des Außenministeriums, in einer Note: "Man muss sich davor hüten, den gegenwärtigen Status und die daraus hervorgehenden Rechte für ein Nachhutgefecht zu nutzen, mit dem wir versuchen würden, den Prozess der Wiedervereinigung zu bremsen." (147)
Durch buchstäblich alle hier abgedruckten Dokumente scheint eine kohärente, in wenigen Leitsätzen zusammenzufassende Haltung gegenüber der Vereinigung der beiden deutschen Staaten durch: Diese, so betonte man immer wieder, sei zunächst und zuallererst eine Angelegenheit der Deutschen, welche diese unter einander, in friedlicher und demokratischer Form, zu entscheiden hätten. Dies müsse allerdings unter Berücksichtigung der Gesamtordnung Europas, die nach 1945 auf der Teilung Deutschlands aufgebaut war, geschehen. Vor diesem Hintergrund sah sich Frankreich dazu berechtigt, auf die Form der deutschen Vereinigung Einfluss zu nehmen: Denn die Form der deutschen Vereinigung musste für Frankreich eine europäische sein; die deutsche und die europäische Einigung sollten im gleichen Rhythmus voranschreiten. Der Weg über die Vertiefung der europäischen Gemeinschaft erschien den hier zu Wort kommenden Akteuren die beste Methode, eine westliche "Kopplung" (arrimage) Deutschlands sicherzustellen (237). Sehr erhellend ist in diesem Zusammenhang der Bericht des französischen Botschafters in London, Luc de la Barre de Nanteuil, von einem Abendessen mit Margaret Thatcher in seiner Botschaft am 11. März 1990. Die Premierministerin halte die Strategie einer europäischen Einbindung Deutschlands für chancenlos: "Die europäische Integration werde Deutschland nicht anbinden können; vielmehr werde Deutschland die europäische Integration dominieren. Frankreich habe einst die Bundesrepublik im Europa der Sechs dominiert. Dies sei vorbei." (256)
In ihrem Bemühen, der deutschen Vereinigung eine europäische Einbettung zu verleihen, waren französische Entscheidungsträger besonders wachsam gegenüber allen Versuchen, die NATO an diesem Weg aktiv zu beteiligen. Was sicherheitspolitische Fragen anbelangte, galt Frankreich der Helsinki-Prozess als der geeignete Rahmen, aber nicht die atlantische Allianz. Vor diesem Hintergrund ist den beiden Herausgebern zuzustimmen, wenn sie die These vertreten, dass es Frankreich darum gegangen sei, "die Europäisierung der deutschen Vereinigung zu fördern." Ob sich Mitterrand mit seiner Deutschlandpolitik damit ganz in gaullistischer Tradition befand, wie es die Herausgeber nahelegen, kann man allerdings bezweifeln. Die von Mitterrand präferierte Methode der europäischen Einbettung der deutschen Wiedervereinigung, nämlich die des progressiven Souveränitätsverzichts zugunsten supranationaler Organe und Entscheidungsprozesse, stand wohl eher im Widerspruch zur "souveränistischen" Tradition des Gaullismus.
Nach Lektüre dieses Buches stellt sich die Frage, ob der "Mythos" von einem vereinigungsskeptischen Mitterrand durch die Veröffentlichung neuer Quellen überhaupt aus der Welt zu schaffen ist. Denn seinen Verfechtern kann keineswegs eine mangelnde Quellenkenntnis zur Last gelegt werden, was etwa Lappenküpers Studie nachdrücklich beweist. Vielmehr werden die gleichen Dokumente anders interpretiert bzw. bewertet: Wer etwa in Mitterrands Forderung nach einer europäischen Einbettung der deutschen Vereinigung und nach einem rückhaltlosen Bekenntnis zur Oder-Neiße-Linie bereits eine Verzögerungstaktik erblicken möchte, wird auch in dieser Quellensammlung neue Nahrung für seine Auffassung finden. Ebenso werden sich diejenigen bestätigt fühlen, die in der französischen Forderung nach einem qualitativen Fortschritt der europäischen Integration eine vorausschauende und angemessene Antwort auf die deutsche Vereinigung sehen. Maurice Vaïsse und Christian Wenkel haben für die letztere Sichtweise überzeugende Argumente geliefert.
Anmerkung:
[1] Ulrich Lappenküper: Mitterrand und Deutschland. Die enträtselte Sphinx, München: Oldenbourg 2011; rezensiert in: sehepunkte 12 (2012), Nr. 3 [15.03.2012], URL: http://www.sehepunkte.de/2012/03/20486.html
Matthias Waechter