Rezension über:

Norbert Campagna: Staat, Gott und Vernunft. Rationalismus und Absolutismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts (= Staatsverständnisse; Bd. 164), Baden-Baden: NOMOS 2022, 419 S., ISBN 978-3-8487-7500-2, EUR 89,00
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Norbert Campagna / Rüdiger Voigt (Hgg.): Das Jahrhundert Voltaires. Vordenker der europäischen Aufklärung (= Staatsverständnisse; Bd. 139), Baden-Baden: NOMOS 2020, 231 S., ISBN 978-3-8487-5854-8, EUR 44,00
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Rezension von:
Georg Eckert
Historisches Seminar, Bergische Universität, Wuppertal/ Albrecht-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Georg Eckert: Das Jahrhundert Voltaires und Staat, Gott und Vernunft (Rezension), in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 4 [15.04.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/04/37306.html


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Das Jahrhundert Voltaires und Staat, Gott und Vernunft

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In derselben Reihe sind die beiden hier anzuzeigenden Bände erschienen. Sie zusammen zu besprechen, legen auch viele weitere Bezüge aufeinander nahe. Ihr gemeinsames Leitmotiv besteht darin, die Funktion der Vernunft im zeitgenössischen Staatsdenken des Absolutismus und der Aufklärung als Zeitalter Voltaires zu rekonstruieren. Dieser thematische Fokus verbindet beide Titel implizit, ebenso wie eine Personalunion von Autor und Herausgeber. Zudem führen sowohl Monographie als auch Sammelband den Leser jeweils im Wege der historischen Rückschau an Problematiken heran, die gerade wir Heutigen beim Blick auf den Staat unserer Tage immer wieder neu durchdenken müssen.

Wo derlei ostentativ präsentisch gerät, überkommen den Historiker allerdings rasch methodische Bedenken: etwa dort, wo der Einblick in das "Jahrhundert Voltaires" laut Einleitung dem Zwecke dienen soll, ein derzeit schwindendes "Vertrauen in die Vernunft" im Wege des Rückblicks zu stärken (14). Vielleicht diente es eher dazu, es zu relativieren, gar zu erschüttern, erweist sich Voltaire doch auch im vorliegenden Band als Skeptiker menschlicher ratio. Jedenfalls setzt sich mit "Vernunft" kein Kapitel des Sammelbandes ausdrücklich auseinander, vielmehr beleuchten seine Beiträge schlaglichtartig einzelne Aspekte im kaum zu überblickenden Schaffen Voltaires: teils orientiert an einzelnen Themen, teils konzentriert auf einzelne Werke, teils ausgerichtet auf die Rezeption. Inwiefern Voltaire "das Zeitalter der Aufklärung geprägt" habe, wie es der Klappentext verheißt, präsentiert sich mehr als Postulat denn als konzise These.

Voneinander abgehoben sind vier Buchteile, "Aufklärung in Europa", "Voltaires Denken in der Diskussion", "Voltaire in Frankreich und England" sowie schließlich "Voltaire und Friedrich der Große". Einerseits folgt eine solche Zusammenstellung dem nachvollziehbar erklärten Prinzip, Voltaire nicht als einen System-Denker zu sehen (12f.), andererseits wäre eine Reflexion für den Leser hilfreich gewesen, warum genau diese ausgewählten Aspekte besondere respektive eher Berücksichtigung verdienen als andere. Mit seiner Skizze dessen, wie Voltaire das Wohl des Staates ins Zentrum seines auf Nützlichkeit und Moral bezogenen Denkens gestellt habe, schafft Norbert Campagna im ersten Buchteil auf gewisse Weise die Verbindung zu seiner gleich zu besprechenden Monographie. Urs Marti-Brander widmet sich vor allem den Grenzen von Voltaires Toleranz und stellt "dem Aufklärer ein schlechtes Zeugnis" aus, wegen seiner "Ausfälle gegen das Judentum": "das Christentum zu exkulpieren und den Juden den Part des Sündenbocks zuzuteilen, ist eine völlig abartige Idee" (46). Oliver Hidalgo untersucht das komplexe, als Aktionsgemeinschaft gegen Intoleranz begonnene, indes ab dem Jahre 1760 auch persönlich gebrochene Verhältnis zwischen Voltaire und Rousseau bis hinein in Auseinandersetzungen der Revolutionszeit und bis zu Friedrich Nietzsche; sodann schildert Andreas Heyer das zeitweilige Engagement Voltaires in der "Encyclopédie", in der er vor allem eine neue Generation von Aufklärern am Werke sieht.

Der zweite Teil des Sammelbands beschäftigt sich vor allem mit der Voltaire-Rezeption. Instruktiv eröffnet ihn Volker Reinhardts Beitrag über Voltaires Deutung des Erdbebens von Lissabon und wiederum dessen Deutung, zu der auch eine heftige Auseinandersetzung mit Rousseau gehörte (98). Gideon Stiening vollzieht nach, wie der junge Lessing eifrig Voltaires Werke in den Druck brachte und sich dabei selbst profilierte, indem er "beißende Kritik im Medium des Lobes" (107) übte. Laurence Weyer wendet sich Voltaires Drama "Zaïre" zu, das auf besondere Weise die Relevanz der Herkunft für die Religion und der Toleranz ausdrücke (133).

Im dritten Buchabschnitt blickt Skadi Siiri Krause auf Voltaires England-Wahrnehmung, die ihm die politische wie sozioökonomische Zukunft auch Frankreichs anzuzeigen schien. Als besonders aufschlussreich erweist sich Damien Tricoires Beitrag über Patronageverhältnisse, in die Voltaire eingebunden war - und die sich in seinen Werken niederschlugen, beispielsweise formulierte er im überarbeiteten "Essai sur les mœurs" manche Passagen so, dass sie für Zeitgenossen wohl leicht als Unterstützung der politisch prominenten Dynastie Choiseul aufzufassen waren (179). Norbert Campagna wiederum betreibt einen Vergleich zwischen Montesquieu, Rousseau und Voltaire insofern, als sie spezifische Varianten eines Republikanismus entfalteten - und Voltaire gewissermaßen den Realisten gab, indem er gegen Montesquieu eigennützigen Motiven der Akteure durchaus legitimen Raum einräumte (203) und gegen Rousseau die reine Volkssouveränität eher als chaotisch empfand (206).

Schließlich behandelt Rüdiger Voigt im letzten Buchteil eine "spannungsreiche Beziehung" zwischen Voltaire und Friedrich dem Großen, die er als Zweckbündnis und zugleich als eine "Hassliebe" (217) zu deuten weiß, in der beide einander aufrichtig bewunderten, aber auch Intrigen gegeneinander betrieben. Erschließen manche Beiträge also Neuland auch für Forscher, helfen andere eher Lesern ohne Vorkenntnisse bei einer ersten Orientierung in Voltaires immens umfang- und beziehungsreichem Œuvre und laden werbend zum eigenen Quellenstudium ein.

In einer ähnlichen Spannung steht Norbert Campagnas Monographie über "Staat, Gott und Vernunft", die immer wieder auf den Wandel des Staatsverständnisses in der Aufklärung vorausblickt: teils sehr konzise und bündig, teils mit vielen Querverweisen auf zeitgenössische Denker, die nur Experten bekannt sein dürften. Auch dieses Buch soll ausdrücklich ein "Licht auf die Gegenwart" werfen (52), indem es den Ort der Vernunft sowie der "absoluten[n] Macht der Vernunft" (19) bestimmt: konzentriert auf das Staatsverständnis, wie es sich bei René Descartes, Blaise Pascal, Kardinal Richelieu und Bischof Bossuet darstelle - in der jeweiligen Theorie, nicht in der politischen Praxis (50), so zumindest das Prinzip, das spätestens dann durchbrochen wird, wenn Richelieus Kampf gegen die Parlements beschrieben oder Bossuet in seiner gegen den Protestantismus gerichteten Religionspolitik charakterisiert wird. Es hätte gerne öfter durchbrochen werden dürfen: Ein "Diskurs" ist eben per se mehr "als die Darstellung bzw. Selbstdarstellung" (50), seine Analyse schließt gerade diejenige der jeweiligen Machtverhältnisse ein. Hier wäre der Einleitung eine präzisere Argumentation zu wünschen gewesen, vielleicht auch eine eingehendere Erörterung, ob die betreffenden Autoren nun eher exemplarisch, paradigmatisch oder für sich zu verstehen sind. Doch sie betont in wünschenswerter Deutlichkeit, was heutigem Denken eher fremd geworden ist, wenigstens im Westen: die theologische Einfassung der jeweiligen Staatsverständnisse (21).

Diesem Thema ist auch das erste Kapitel verpflichtet, das den Absolutismus konzise in Relation zur "Trias Staat, Gott, Vernunft" setzt. Es sei das politische Denken des 17. Jahrhunderts "nicht wirklich innovativ" gewesen, markiere dennoch einen "Punkt des Umschlags", habe doch das 18. Jahrhundert den Bezug auf Gott aufgehoben (56) - was man ein wenig bezweifeln mag: Sein "etsi Deus non daretur" hat Hugo Grotius bereits am Anfang des 17. Jahrhunderts formuliert, mit Gott hingegen argumentierten noch respektive wieder Staatsdenker der Restauration. Das mündet in einer konzeptionellen Frage, die der Sammelband über das 18. Jahrhundert via facti anders beantwortet als die Monographie: indem er die Diskurse, in die der Franzose Voltaire eingebunden war, dezidiert als europäische versteht. Aber bestand umgekehrt wirklich ein "französisches" Staatsdenken im 17. Jahrhundert in einer räumlich engeren Weise, über deren Grenzen schon die zahlreichen Querbezüge etwa auf Jakob VI./I. (92), Christian Wolff (99) und viele andere hinausführen: ganz abgesehen von zahlreichen Verweisen auf Thomas Hobbes (u.a. 157, 230), dessen kurzzeitiges Exil ihn ja noch nicht zum Franzosen gemacht hat? Stellt nicht gerade die Vita Descartes' eine - vielleicht pragmatisch gebotene - Beschränkung auf einen "nationalen" Diskurs- und Handlungsraum infrage? Und vor allem: Ließe sich eine "theoretische" Besonderheit französischen Staatsdenkens darstellen, ohne ihre "praktische" Dimension als wesentlichen Rahmen spezifischer Auseinandersetzungen zu skizzieren?

Derlei Rückfragen sollen indes nicht den Blick auf gut begründete, thesenfreudig zupackende Formulierungen verdecken, mit denen der Autor "absolutistische" Staatslehren in den Griff zu bekommen sucht: indem er sie als "Allgemeinwohltheorien" (105) ausweist, die den Herrscher einerseits mit besonderer Macht ausstatteten, ihm andererseits verbindliche Grenzen für deren Gebrauch setzten. Das folgende, ausführlichste Kapitel gilt Descartes, dem sich ein allerdings nicht sonderlich profiliertes Plädoyer für das Gemeinwohl attestieren lässt (199), als "Philosoph der demokratischen Gesellschaft" (111); eine politische Philosophie im engeren Sinne hat er zwar nicht verfasst, doch folgt der Autor hier Tocquevilles Lesart, indem er eine "cartesische Methode" des Vernunftgebrauchs in den jungen Vereinigten Staaten von Amerika skizziert (127). Das verdient insofern besondere Aufmerksamkeit, als gerade aufklärerische Autoren des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts ihre politische Philosophie eng an erkenntnistheoretische Annahmen banden: Bei John Locke etwas grundierte die Epistemologie sein Staatsverständnis. Campagna fokussiert sich eher auf die Anthropologie, wenn er Descartes - und viele andere zeitgenössische französische Autoren - auf den Zusammenhang zwischen Politik und Leidenschaften hin untersucht, sollte doch der Staat eine Kontrolle der Leidenschaften im Menschen bewirken (172). Dass auch Descartes' Verhältnis zu Machiavelli in den Blick gelangt, hat wohl weniger eine systematische Ursache als eine genetische: Ursprünglich war das Buch als Studie über Descartes allein geplant (Vorwort).

Mit Blaise Pascal steht ein Denker im Vordergrund des folgenden Buchabschnitts, der nur selten politisch gedeutet wird - ein spannender Impuls, um den "Schleier einer fiktiven Legitimität" (210) zu lüften: Pascal erscheint hier als Konstruktivist, beinahe als Marxist avant la lettre (223), der Irrtümer der Einbildungskraft für das Staatsdenken produktiv zu machen suchte (230), bisweilen eine "edle Lüge" als politische Notwendigkeit (238) anerkannte und den Glauben an die Gerechtigkeit der eigenen Gesetze für zentral erachtete (250); auch Jean Domat findet hier Berücksichtigung, der göttliche Liebe am Beginn menschlicher Gesetze lokalisierte (256). Sodann tritt im folgenden Kapitel nunmehr Kardinal Richelieu auf, indes nicht als Staatsmann, sondern als der Denker seines "Testament politique". Die notorisch auf ihrer Eigenmacht beharrenden Parlements wollte Richelieu auf den Status von Exekutoren des königlichen Willens heruntergedrückt sehen (277), adelige Ehrenduelle fasste er als Beleidigung Gottes und des königlichen Willens zugleich auf (298); gleich anderen Autoren ging es ihm um die Behauptung Frankreichs gegen spanische und englische Ambitionen - und Vernunft fasste er als Regel des Staates auf, die der Herrscher zu ergreifen habe: freilich nicht im Sinne einer abstrakten Vernunft, sondern einer konkreten Abwägung (327).

Das letzte Kapitel gilt Jacques Bénigne Bossuet, der hier als Advokat einer christlich-katholischen, "antireformatorische[n] Religionspolitik" firmiert (367) und etwa gegen Pierre Bayles Annahme eines tugendhaften Atheisten darauf beharrte, gerade Christus sei ein Musterbürger gewesen, Christen mithin bessere Bürger. Bossuet verteidigte Prinzipien der Heiligen Schrift, die er als widerspruchsfrei darstellte: Ein guter Fürst müsse mit Gott regieren, eine von theologischer Orientierung losgelöste Staatsraison erkannte Bossuet nicht an (346). Freilich beharrte auch er darauf, absolute Macht nicht als Willkürherrschaft zu verstehen; der Herrscher müsse sie - eher im Sinne einer ihn belastenden Pflicht als eines ihn begünstigenden Rechtes - gut einsetzen, zum Wohle der Untertanen (358), das auch einen starken König erfordere, der sich gegen seine Großen zu behaupten wisse (362). Absolute Macht wollte also "vernünftig" gebraucht sein (367). Das schloss für Bossuet auch eine rigide Politik gegen Protestanten ein: Scharf argumentierte er etwa gegen Pierre Jurieu und dessen Vorstellung von Volkssouveränität, weil die Schöpfung in Gott liege, nicht in Individuen (373f.).

Dass das Fazit des letzten Buchteils eigentlich ein separat zu stellendes Resümee des gesamten Bandes darstellt, fällt leider auf den Verlag zurück: Ein kundiges Lektorat hätte darauf ebenso hingewiesen wie auf das "Vereinigte Königreich" (301), das nicht ins 17. Jahrhundert gehört, oder die "Magna Charta Libertatorum" (365) oder den Mehrwert, den ein Register der zahlreichen zitierten Autoren stiften könnte. Der Schluss betont, inwiefern die so vernünftige Herrschaft eines absoluten Königs einem "verschleiernden Diskurs" (385) gleichgekommen sei und inwiefern gerade Furcht vor dem Jenseits eine Anleitung zu vernünftigem Leben nahelegte (385). Schließlich markiert er Unterschiede zur "Moderne", die auf Gott verzichte, aber auch Gemeinsamkeiten, lege letztere doch die Verantwortlichkeit auf Parlamente, freilich nicht auf den einzelnen Wähler (393) - kulminierend in der spannenden These, "dass die modernen Demokratien zum Teil in dieselben Probleme verstrickt sind wie einst die absoluten Monarchien" (397).

Auf ihre Weise geben beide Bücher spannende Anregungen: insbesondere zur Lektüre der interpretierten Quellen, aber auch über Kontinuitäten und Brüche des Staatsverständnisses seit dem frühen 17. Jahrhundert bis zum Zeitalter der Revolutionen und darüber hinaus. Zweifellos leisten sie so einen wertvollen Beitrag dazu, eine zuletzt kaum geführte Debatte über die Ideengeschichte insbesondere des Absolutismus zu intensivieren. Dass das synoptische Studium beider Bände ohne einen handfesten Befund bleibt, inwiefern wandelnde Vernunft-Verständnisse der Akteure deren Staatsvorstellungen rahmten, ist womöglich selbst ein handfester Befund: über einen schillernden Begriff, der in ganz unterschiedlichen Variationen seit der Antike durch die politische Philosophie geistert und immer neuer Aneignung bedarf.

Georg Eckert