Stefano Saracino: Republikanische Träume von der Macht. Die Utopie als politische Sprache im England des 17. Jahrhunderts (= Schriften zur politischen Kommunikation; Bd. 17), Göttingen: V&R unipress 2014, 366 S., ISBN 978-3-8471-0283-0, EUR 49,99
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Frühneuzeitliche Utopien sind ein weites, aber kein freies Feld - und gewiss eines, das nach intensiver Beackerung in den 1970er- und 1980er-Jahren eine neue Bearbeitung lohnt. Umso höher wachsen die Erwartungen, wenn es in englische Gefilde geht. Denn zwischen dem Beginn des Bürgerkriegs im Jahr 1642 und der Restauration des Jahres 1660 hatte es die Utopie dort zur populären Gattung gebracht. Das betont die Einleitung des anzuzeigenden Buches und fragt "nach dem Stellenwert der Utopie in der politischen Kommunikation und als Bestandteil politischer Sprache" (14). Die ambitionierte Untersuchung möchte Utopie als Kommunikationsform deuten und erörtern, ob diese eine eigene politische Sprache gebildet habe. Von millenarischen Erzählungen hebt der Autor die Utopie ob der Prämisse ab, die menschliche Natur sei "moralisch und intellektuell defizient und zudem unveränderbar" (29); Utopie und Republikanismus erachtet er für kompatibel und misst John Pococks an-utopische Bewertung von James Harringtons "Oceana" an einer Analyse von Thomas Morus' genrestiftender "Utopia" (30-35). Auch das zweite, methodologische Kapitel übt pointierte Kritik und entscheidet sich doch, "alle drei Begriffsmodelle nutzen" zu wollen (63). Das kann man einen "mehrdimensionalen Utopiebegriff" (63) nennen - oder einen indifferenten. Am morphologischen Begriff stört den Verfasser mangelnde "Vielfältigkeit" (45), am "intentionalen", dass er dazu verführe, die "prinzipielle Rückwärtsgewandheit" der Frühen Neuzeit (52) zu verkennen; er selbst widmet sich vor allem der "rhetorisch-linguistischen Dimension" (59) und fragt unter Verweis auf Quentin Skinner nach Funktionen. Mittel der Persuasion sei die Utopie gewesen, sie habe der Kommunikation mit Herrschaftsträgern gedient und neue Semantiken ermöglicht (61-62).
Nicht definiert wird indes jene "politische Kommunikation", die der erste der beiden großen Buchteile in vier "Momentaufnahmen" präsentiert, ohne Kriterien der Auswahl zu benennen. Die "Macaria" aus dem Jahr 1641, entstanden im Kreis um Samuel Hartlib, habe "eine bewusste Abgrenzung von der Utopie" dargestellt (73). Deutlich wird ihr Zusammenhang mit Bacon'schen Reformideen, undeutlich bleibt ihre analytische Relevanz. Gemeint scheint das "persuasive Potential, das der Utopie innewohnt" (84) - und wohl eher von den Rezipienten her bestimmt werden müsste. Es folgt ein großer Sprung zu Gerrard Winstanleys "The Law of Freedom" aus dem Jahr 1652. Diese Utopie einer egalitären Agrargesellschaft habe an den republikanischen Diskurs angeknüpft und Cromwell persönlich zu überzeugen versucht - ob eine Widmung einer Schrift schon politische Kommunikation schafft, wäre freilich zu diskutieren. Harringtons "Oceana" als Utopie zu deklarieren, bereitet dem Autoren sodann allerhand Mühe; er markiert Anknüpfungspunkte an puritanische sowie Bacon'sche Ideale und stimmt Deutungen zu, die einen Vertrauensverlust in Cromwells Herrschaft erblicken (125). Anti-Utopismus findet er in Marchamont Nedhams "True Excellencie of a Free State" (1656), die in volksnaher Attitüde den Lordprotektor ermahnt habe (135). Nedhams "Mercurius Politicus" entpuppe sich als regimetreue Utopie-Kritik, die weniger die "literarische Form" als den "philosophisch-intentionalen Modus der Weltverbesserung" (144) betroffen habe. Bei den Republikanern des Commonwealth steche das Lob der Demokratie hervor, auch der Versuch, eben diese mit sozioökonomischen Reformen abzusichern. Die Utopisten der Restauration hingegen hätten einerseits Herrscherkritik, andererseits Vorstellungen einer "idealen Monarchie und eines allmächtigen Monarchen" (204) gepflegt.
Hier geraten die im Titel angekündigten "republikanischen Träume von der Macht" arg unrepublikanisch. So wirkt der Übergang in den nächsten Buchteil, der Funktionen der Utopie im Republikanismus untersucht, brüchig. Er beginnt ausgerechnet mit der Annahme, dass sich Utopien besonders zur Darstellung von Freiheit eigneten (213). Zentrale republikanische Konzepte - Mischverfassung, Antimonarchismus, Miliz, gleichmäßiges Eigentum an Ackerland - zeigten sich in Utopien. Die Prozess-Orientierung der "Oceana" erscheint als "Bekenntnis zur republikanischen Kultur der politischen Beratschlagung und Deliberation" (257). Ob sich das mit der folgenden Entdeckung von "literarischen Ersatzhandlungen" (288) deckt, bliebe zu erwägen; ohnehin ist wenig erhellend, was Satire "auch unabhängig von ihrer Verbindung zur Utopie" (276) leiste. Schließlich werden den Utopien etatistische Züge attestiert, ihre Urheber hätten sich, wie der Leser just nach Ausführungen über die satirische Dimension erfährt, als Vernunftherrscher präsentiert (299). Deshalb wird das Straf- und Beschäftigungsregime in einer breiten Lektüre von Platon bis Beccaria umrissen; unter Anleitung von Foucaults Studien soll gerade eine Lektüre von Morus' "Utopia" die "Protomodernität" der Utopien beweisen (316).
Das Fazit ruft "Ermahnungen älterer Forschungen (etwa von John Pocock oder von J. C. Davis) ins Gedächtnis" (319) und gelangt zur Erkenntnis: "Einem Chamäleon gleich" sei die Utopie gewesen, unbegrenzt verwendungsfähig (319). Wenn das stimmt, wenn sie für Republikaner und Monarchisten gleichermaßen nutzbar war, kann sie allerdings gerade keine distinkte politische Sprache im Pocock'schen Sinne gewesen sein. Ihre "Grundfunktionen" auf die "Verwendung der Utopie bei der Tradierung republikanischer Semantiken", die Genese eines "ioco-seriösen Modus der Mitteilung" sowie die "Konzeption staatlicher Organisationsstrukturen im radikal-rationalistischen Gedankenexperiment der Utopie" (319-320) zu reduzieren, ist vielleicht zu viel gewagt - vielleicht zu wenig hingegen, sie als "mehr oder weniger eigenständige Sprache" zu charakterisieren, deren Semantik "anhand eines (nicht erschöpfenden) Katalogs von semantischen Gegensatzpaaren oder Spannungsfeldern" (323-324) darzustellen sei.
Auch das Resümee der letzten Seite, Utopien "enthalten in der Regel kontrafaktische Fiktionen oder machen zumindest von der Fiktion intensiv Gebrauch" (329), hinterlässt den Leser an einem Gemeinplatz und fragend: nach der klaren These, die das Buch zusammenhielte und im Einzelnen kluge Deutungen zu einem Ganzen formte. Die zahlreichen formalen Mängel wären nicht erwähnenswert, wenn sie nicht den Eindruck verstärkten, das Werk sei flüchtig redigiert oder gar komponiert. Fehler durchziehen den Text, der regelmäßig mit sprachlichen Unregelmäßigkeiten überrascht (bis hin zur Fehlkonjugation "schaffte" statt "schuf", 68). Schon die erste Textseite entbehrt zweier gebotener Kommata und eines nötigen Apostrophs; auf die letzte Textseite folgt ein "Abbildungsverzeichnis", das nicht Abbildungen verzeichnet, sondern die Abbildungen selbst beinhaltet - "Carolus II" (335) verkommt in einer Abschrift obendrein zu "Charolus II" (181). Dass der Autor inmitten solcher Lapsus anderen attestiert, "leichtfertig" etwas übersehen (102) zu haben, wirkt eigenartig. Wenn vollends das "Book of Common Prayer" zum "Common Book of Prayer" (19, 66) mutiert, fühlt sich selbst der wohlwollendste Rezipient ratlos und wundert sich, warum der Verlag seinem Autor ein Lektorat vorenthält und gleichwohl das Etikett "Academic" beansprucht. Am Ende bleibt der geneigte Leser enttäuscht zurück - weil er die spannenden Deutungen des gedankenvollen, belesenen und thesenfreudigen Autors gerne in überzeugender Form kennengelernt hätte. Zu bilanzieren ist leider nur kleiner Erkenntnisgewinn, der für die erheblichen Mühen der Lektüre kaum zu entschädigen vermag.
Georg Eckert