Shlomo Sand: Israel-Palestine. Reflexions on Binationalism, Tel Aviv: Resling 2023, 225 S., ILS 89,00
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War die Bi-Nationalität je eine reale Option für den Zionismus? Der Tel Aviver Historiker Shlomo Sand stellt fest: "Die Tatsache, dass das bi-nationale Paradigma [...] nie wirklich in [Israels] politischer Kultur Fuß fassen konnte, sagt nichts über seine Relevanz" (31). In den zehn Kapiteln seines in Hebräisch verfassten Buchs erzählt er die Geschichte der Auseinandersetzung vor allem jüdischer Intellektueller mit einer Idee, die angesichts der Durchsetzung des Zionismus im 20. Jahrhundert immer unwahrscheinlicher erscheint, doch angesichts der Sinnkrise des zionistischen Israel als unabdingbaren Ausweg dargelegt wird.
Im ersten Abschnitt "Zwischen Mittelmeer und dem Jordan: Der Mythos 'Vaterland' vs. Land der Einheimischen" werden die Grundbegriffe dargelegt: Das nicht leere "Vaterland", der "Nationalismus" als Ursprung des Zionismus, "Ethnozentrismus" als Ausprägung des jüdischen Nationalismus und schließlich der Binationalismus als die humane und praktikable Lösung. Das 2. Kapitel: "Zion unterjochen & die verborgene Frage: Von Achad Haam zu Itzhak Epstein" problematisiert die frühzionistische Tendenz, die Palästina-Frage zu verdrängen. Epsteins berühmten Artikel "Die verborgene Frage" von 1907 nimmt Sand als Vorlage für die Kritik am dominanten zionistischen Muster der Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung aus dem zionistischen Projekt.
Auch der 1925 gegründete Verband Brit Shalom setzte sich ausdrücklich für einen Zweivölkerstaat ein und verstand sich als "Eine moralische Brücke gegen die Eiserne Mauer" (Kapitel 3). Hierin sieht Sand ein "Rätsel der zionistischen Geschichte" (49): Der Gründer Arthur Ruppin war ein überzeugter Rassentheoretiker; und ausgerechnet hinsichtlich der Schlüssel-Errungenschaft des Frühzionismus, sprich der Balfour-Erklärung von 1917, brach ein Streit aus: Während Ruppins Anhänger diese Deklaration als unabdingbare Voraussetzung für das zionistische Staatsprojekt ansahen, kritisierten sie die "Radikalen" wie Hugo Bergmann und Gershom Scholem als "imperialistisch und diskriminierend" (62). Als radikal galt auch Hans Kohn. Dem Philosophen lag die binationale Lösung für Palästina besonders am Herzen. Die arabische Revolte 1929, hoffte er, würde die Jischuw-Führung veranlassen, den zionistischen Anspruch auf den jüdischen Staat zu verwerfen. 1930 erkannte Kohn die mit diesem Ziel verbundene Konfliktlogik: "Mit Gewalt ließe sich wahrscheinlich eine jüdische Mehrheit erzielen, doch wozu? Was dann?" Ein winziger jüdischer Staat umzingelt von "Feinden" werde sich stets bis an die Zähne bewaffnen müssen (68). Noch vor 1948 verließ Kohn Palästina, um später zu erkennen, dass ethnozentrische Nationalbewegungen einem Mehrvölkerstaat nicht gewachsen seien.
Im vierten ("Philosophische Nöte vs. gespaltenes Territorium - Von Martin Buber zu Hannah Arendt") und fünften Kapitel ("Der 'Verein' und Theopolitik - Von Judah Leon Magnes zu Ernest Akiva Simon") thematisiert Sand weitere Mitglieder und Unterstützer von Brit Shalom. Buber und Arendt seien beide Binationalisten gewesen, jedoch aus unterschiedlicher Perspektive: Den allumfassenden Nationalismus wollte der Dialogphilosoph mit dem Gottesglauben bändigen, Arendt hingegen mit der Politik. Zwar unterstützte sie den Zionismus nach 1933, doch seine konkreten Ziele beäugte sie - insbesondere in den 1940er Jahren - immer kritischer. Den UN-Teilungsplan 1947 habe sie daher abgelehnt. Jehuda Leon Magnes - Rabbiner, Zionist, Gründer und Präsident der Hebräischen Universität - positionierte sich vehement gegen die jüdische Nationalstaatlichkeit und wurde deshalb angefeindet. 1942 gründete er zusammen mit Buber und Ernst Akiva Simon den "Verein" (Ihud), um die binationale Lösung zu fördern. Dieser blieb Simon bis Ende seines Lebens 1988 treu, und auch er wurde für seine Kritik an Israels nationalistischem Bildungssystem heftig attackiert.
In der Politik war der Idee von der Binationalität eine kürzere Existenz beschieden. Kapitel 6 "Linksparteien, Nationalismus und Brüderlichkeit" befasst sich mit dem zionistischen Marxismus (Hashomer Hazair), der auf Vereinbarkeit von sozialistisch-marxistischen und zionistischen Zielen setzte und die binationale Lösung in seinem Programm bis zur Staatsgründung beibehielt, und mit der Kommunistischen Partei (KP), die den Zionismus als imperialistische Bewegung explizit ablehnte. Doch auch bei der 1919 gegründeten KP hinterließ der Zweite Weltkrieg Spuren, wie sich am Konflikt über die Aufnahme jüdischer Displaced Persons aus Europa zeigte, an dem die Zusammenarbeit zwischen den jüdischen und arabischen Mitgliedern scheiterte. 1943 zerbrach die Partei. Nachdem die Sowjetunion dem UN-Teilungsplan 1947 zugestimmt hatte, gründeten arabische und jüdische Kommunisten jedoch gemeinsam die Israelische Kommunistische Partei. Shlomo Sand begreift das Jahr 1948 als Zäsur: "Ohne die Nakba wäre bereits 1948 ein apartheidmäßiger 'binationaler' Staat entstanden" (131). Das über die im jüdischen Staat verbliebene arabische Bevölkerung verhängte Kriegsrecht, das 1967 zusätzlich auf die eroberten palästinensischen Gebiete ausgedehnt werden sollte, habe die Binationalisten herausgefordert.
Die Kapitel 7 ("Der Semitische Akt und die hebräisch-arabische Föderation") und 8 ("Für die Ewigkeit vereint?") befassen sich mit jüdisch-israelischen Auseinandersetzungen. Die Begriffswahl der 1958 gegründeten Organisation Semitischer Akt erklärte Mitbegründer Uri Avneri mit dem Versuch, die gemeinsame Herkunft zu betonen. Das Ziel war schließlich die Integration in der Region. Anders als Brit Shalom war der Semitische Akt national, aber nicht zionistisch, hebräisch, doch nicht jüdisch, dazu säkular-atheistisch. Anders als der ethnozentrisch beziehungsweise ethnoreligiös orientierte Zionismus sei er dazu zivilnational gewesen und habe auf die Trennung von Staat und Religion gesetzt. Das "Hebräische Manifest" des Semitischen Akts zeichnet sich durch einen antiimperialistischen Impuls aus; das Ziel hieß "Die Große Semitische Föderation" (145). Das "Hebräische Manifest" kratzte am zionistischen Mythos der einen jüdischen Nation. Sand selbst behandelte diesen Mythos in seinem 2008 erstmals erschienenen Bestseller: "Die Erfindung des Jüdischen Volkes". [1] 1967 wurde ein neuer zionistischer Mythos geboren: Mit der Eroberung von Restpalästina erhoffte der Semitische Akt die binationale Konföderation. Doch Israels Sicherheits- und Siedlungspolitik wiesen in eine ganz andere Richtung. Von der Unwiderruflichkeit dieser Entwicklung sprach der Historiker Meron Benbenisti schon in den 1980er Jahren. Das Land sei schon damals nicht mehr teilbar, auch wenn linkszionistische Friedensaktivisten forderten: "Land für Frieden".
Der Friedensprozess von Oslo in den 1990er Jahren bestätigte diese Befürchtung Benbenistis: Die Siedlungen standen einer Zweistaatenlösung im Weg, was schließlich in die blutigen Kämpfe zwischen 2000 und 2005 mündete. Der ebenso langwierige wie verheerende bewaffnete Konflikt ließ Israel massiv nach rechts rücken. [2] Die Ernüchterung der linkszionistischen Intelligenzija im neuen Millennium folgte: Haim Hanegbi bedauerte Israels imperialistischen Drang, Benbenisti erkannte den kolonialistischen Charakter des Konflikts. Tony Judt übte scharfe Kritik an Israels "anachronistischem judozentrischen Modell" (164). 2012 gründeten Meron Rapoport, Oren Yiftachel und Awni Al-Mashni den Verein für die Konföderation "Ein Land für Alle". Es folgte Peter Beinarts Abschied vom Modell des jüdischen Staats 2020. Andererseits äußerte Ian Lustik 2019 Kritik an der Illusion der Zweistaatenlösung, während Omri Böhm sein binationales Konzept der Annährung durch den Alltag am Beispiel der "Haifa Republik" propagierte (2020). Schon 2015 hatte der eingefleischte linkszionistische Schriftsteller A. B. Jehushua zum Umdenken aufgerufen: Man müsse die Annektierung des Westjordanlands sowie die Einbürgerung von Teilen seiner Bewohner in Erwägung ziehen.
Im neunten Kapitel ("Applaudieren geht kaum mit einer Hand") kommen palästinensisch-arabische Stimmen zu Wort. Shlomo Sand zitiert Intellektuelle, die an Zusammenarbeit glaubten wie George Antonius oder Faouzi al-Husseini. Die 1964 gegründete Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO) setzte sich für einen säkularen Staat für alle ein. 1988 erkannte sie erstmals den jüdischen Staat an und konnte sich so 1993 auf den Friedensprozess von Oslo einlassen. Da eine Teilung des Landes jedoch immer unmöglicher wurde, sprachen immer mehr arabische Intellektuelle von einem einzigen säkularen Staat, zu nennen wären Edward Said 1999, Lama Abu-Odeh 2002, Gahda Karmi 2002, Ahmad Samih Khalidi 2003, Omar Barghouti 2004, Ali Abunimah 2006, Sari Nusseibeh 2008. Skeptiker wie A. Ghanam argumentierten dagegen mit dem nationalen Selbstverständnis der beiden Völker, das eine binationale Lösung unrealistisch mache. Im Schlusskapitel "Die Alternativen: Apartheid beziehungsweise Bevölkerungstransfer oder bi-nationaler Versöhnungsrahmen?" wird die Sinnkrise des jüdischen Nationalstaats deutlich. Sands Plädoyer für einen binationalen Staat hat zwar angesichts des neozionistischen Siegeszugs wenig Aussicht auf Erfolg; in Anbetracht der seit Jahren anhaltenden Regierungskrise wirken seine Reflexionen über die ur-zionistische Palästina-Frage jedoch relevanter denn je.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Shlomo Sand: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010.
[2] Vgl. Tamar Amar-Dahl: Der Siegeszug des Neozionismus. Israel im neuen Millennium, Wien 2023.
Tamar Amar-Dahl