Rezension über:

Reiner Hoffmann / Peter Seideneck (Hgg.): Der lange Weg zur Demokratie. Von Berlin über Budapest nach Prag und Danzig, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2023, 187 S., ISBN 978-3-8012-0648-2, EUR 18,00
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Rezension von:
Sebastian Voigt
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin
Empfohlene Zitierweise:
Sebastian Voigt: Rezension von: Reiner Hoffmann / Peter Seideneck (Hgg.): Der lange Weg zur Demokratie. Von Berlin über Budapest nach Prag und Danzig, Bonn: J.H.W. Dietz Nachf. 2023, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/10/38157.html


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Reiner Hoffmann / Peter Seideneck (Hgg.): Der lange Weg zur Demokratie

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Der ehemalige Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Reiner Hoffmann, und Peter Seideneck, der jahrzehntelang für den Europäischen Gewerkschaftsbund tätig war, wenden sich in dem von ihnen herausgegebenen Buch einem in Deutschland allzu häufig vernachlässigten Bereich der europäischen Demokratiegeschichte zu: den großen Arbeiteraufständen in den realsozialistischen Ländern.

Sie behandeln dabei vier einschneidende Marksteine der Kämpfe um Demokratie: den Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der Deutschen Demokratischen Republik, den Arbeiterprotest in Ungarn 1956, den Prager Frühling 1968 und die Arbeiterkämpfe in Polen von 1956 bis 1989. Es geht ihnen vor allem darum, die Bedeutung dieser Ereignisse für die Geschichte der europäischen Gewerkschaftsbewegung und die europäische Einigung zu beleuchten. Schließlich wandte sich in allen Aufständen die Bevölkerung auch gegen die sowjetische Hegemonie. Erst ihr Ende markierte "den Beginn der Wiedervereinigung Europas in der Europäischen Union, aber auch des Europäischen Gewerkschaftsbundes" (9).

Im ersten Beitrag rekonstruiert Ilko-Sascha Kowalczuk (10-61) die Entwicklungen in der DDR, die zum Volksaufstand am 17. Juni 1953 führten. Dabei geht er auf die Fluchtbewegung aus dem Land ebenso ein wie auf die Norm- und Lohnfragen, die bereits in der Zeit zuvor heftige Konflikte zwischen der Arbeiterschaft und dem Regime provoziert hatten. Als Reaktion auf die miserable (Alltags-)Lage änderte die Regierung ihre Politik. Den Zeitpunkt der Revolte interpretiert der Autor deshalb folgendermaßen: "Dass der Volksaufstand genau in jenem Moment losbrach, in dem sich die SED anschickte, begangene Fehler zu korrigieren, lag in der Logik des Systems begründet. Das Eingeständnis der Machthaber, Fehler begangen zu haben, weckte die Hoffnung, wirklich etwas verändern zu können" (24). Zwischen dem 16. und 21. Juni 1953 fanden in der gesamten DDR Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen statt. Kowalczuk fokussiert auf die Abläufe in Ost-Berlin, diskutiert aber auch die in Dresden, Magdeburg und die Aufstände in der Provinz. Die sowjetische Armee griff schließlich ein und beendete die Volkserhebung. Dagegen hatten die unorganisierten und führerlosen Aufständischen keine Chance. Dennoch sei der 17. Juni ein europäischer Gedenkort und ein bedeutender Tag in Deutschland: "Der Volksaufstand zählt zu den wenigen revolutionären Massenbewegungen in der deutschen Geschichte" (61).

György Dalos, ungarischer Historiker und Mitbegründer der demokratischen Opposition, geht im folgenden Beitrag auf den Arbeiterprotest in Ungarn 1956 ein. Aufgerüttelt durch Proteste in Polen, gingen am 23. Oktober zunächst Studierende aus Solidarität auf die Straße. Dalos stellt die ungarische Situation somit in eine Reihe von Protesten und Streiks in verschiedenen osteuropäischen Ländern. Die ursprünglich studentische Demonstration schwoll im Laufe des Tages zu einer allgemeinen Protestbewegung an. Die Demonstrierenden stürmten schließlich das Rundfunkgebäude. In den Abendstunden fiel ein erster Schuss. Danach bewaffneten sich viele Protestierende.

Die Regierung machte in der Folge einige Zugeständnisse, führte das Mehrparteiensystem wieder ein, löste die alte kommunistische Partei auf und erklärte den Austritt aus dem Warschauer Pakt. Ungarn sollte neutral sein nach dem Vorbild Österreichs. Diesen Affront akzeptierte die Sowjetunion nicht. Ab dem 4. November stellte sie militärisch die vollständige Kontrolle über das Land wieder her.

Alle Reformbestrebungen wurden erstickt. In der Folge flohen mehr als 70.000 Personen aus Ungarn. Dalos unterstreicht abschließend generell die Bedeutung, die Arbeiterproteste in den osteuropäischen Ländern für eine demokratische Umgestaltung hatten, sei es in Form von Lohnkämpfen oder in der Ablehnung von Norm- und Preiserhöhungen: "In einem undemokratischen System schufen sie, wenn auch nur für einige Tage, Wochen oder Monaten (sic!) Inseln der Demokratie und demonstrierten dadurch die grundsätzliche Fähigkeit der Gesellschaft, Autonomie einzufordern und sie auch zu praktizieren" (96).

Im folgenden Beitrag behandelt wiederum Dalos den Prager Frühling. Zunächst beschreibt er, wie sich das kommunistische System nach 1945 konsolidierte. Im Zuge der krisenhaften Entwicklung 1968 wurde Alexander Dubček, der bisherige slowakische KP-Vorsitzende, zum Generalsekretär der tschechoslowakischen KP ernannt. Er schlug unter dem Slogan "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" einen reformkommunistischen Kurs ein. Unter anderem wurde die zentrale Planung eingeschränkt und das Außenhandelsmonopol des Staates gelockert. Die sozialistischen Unternehmen erhielten größere Selbstständigkeit.

Diese Öffnungsschritte gingen Moskau zu weit. Alle Vermittlungen scheiterten. In der Nacht zum 21. August marschierten an die 500.000 Soldaten sozialistischer "Bruderländer" ein und besetzten in den kommenden 36 Stunden die gesamte Tschechoslowakei. Die DDR beteiligte sich letztlich nicht militärisch, da deutsche Soldaten etwas mehr als 20 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs problematische historische Erinnerungen geweckt hätten. Der nach dem Einmarsch einsetzende Prozess der "Normalisierung" beendete den Reformkurs.

Die Erinnerung an den Prager Frühling lebte aber weiter, ebenso wie der Wunsch nach Reformen. Die kritischen Intellektuellen der "Charta 77" stellten sich beispielsweise in diese Tradition. Insofern lasse sich eine Linie von 1968 bis zum Umschwung 1989 ziehen. Der Autor resümiert diese Tendenz: von 1968 sei das Bestreben der Gesellschaft übrig geblieben, "das eigene Schicksal ohne äußere Einmischung selbst zu bestimmen, möglichst viel Freiheit vom Staat zu erringen und an dieser Freiheit Lust zu spüren" (133).

Im letzten Beitrag geht Jean-Yves Potel auf die zahlreichen Kämpfe der polnischen Arbeiter für eine Demokratisierung der Gesellschaft von 1956 bis 1989 ein. Er beschreibt die schwierige Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit, um dann die Unruhen 1956 und 1968 in Polen zu schildern.

Seit dem Sechstagekrieg 1967 zog eine antisemitische Säuberungswelle durch das Land, die sich gegen Parteikader ebenso wie gegen Studierende wandte. Der staatliche Versuch, die Juden zu einer "fünften Kolonne" zu stempeln und an ein "Volkspolen" zu appellieren, traf keineswegs in der gesamten Gesellschaft auf Zustimmung. "Im Gegenteil, sie trugen dazu bei, dass eine neue Generation intellektueller Dissidenten entstand, die sich für demokratische Rechte einsetzten" (149).

Aufgrund der schlechten Versorgungslage protestierten ab den frühen 1970er Jahren immer wieder Arbeiter gegen die Zustände. Alle Stabilisierungsbemühungen und Kompromisse mit der aus einer Streikbewegung 1980 entstandenen Gewerkschaft Solidarność scheiterten, so dass das Regime am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht verhängte. Widerstand dagegen schlug das Militär nieder. Die Regierung konnte sich in den kommenden Jahren nur mit Repression an der Macht halten. Die Gewerkschaft gewann aber weiter an Einfluss, bis schließlich im Februar 1989 mit dem "Runden Tisch" ein Reformprozess initiiert wurde. Damit begann die grundlegende Transformation, die letztlich zum Ende des Realsozialismus in Polen führte. Potel kommentiert diese Entwicklung wie folgt: "Dies war ein mehr als ehrenvolles Ergebnis am Ende von 30 Jahren Arbeitskämpfen" (194).

Die in dem Buch geschilderten Ereignisse sind bereits hinreichend erforscht. Innovativ ist hingegen die gewählte Perspektive der Herausgeber: die Arbeitskämpfe und Aufstände in eine europäische Demokratiegeschichte einzuordnen. Damit erweitern sie den analytischen Zugriff der Gewerkschaftsgeschichte. Der Kampf um Demokratie war immer eines der Kernanliegen der Gewerkschaften. Insofern verbinden sich in dem Buch zwei Forschungsstränge, die häufig parallel nebeneinander liefen. Diese Verbindung bietet noch viel Potenzial für zukünftige Forschungen.

Sebastian Voigt