Lori Jones: Patterns of Plague. Changing Ideas about Plague in England and France, 1348-1750, Montreal: McGill-Queen's University Press 2022, XIX + 382 S., 25 s/w-Abb., ISBN 978-0-2280-1080-7, USD 39,95
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Einer der wenigen positiven Effekte der Corona-Ansteckungszeit bestand darin, dass das Interesse am Vergleich zwischen Epidemien einst und jetzt geweckt und damit der Rückblick auf vergangene Katastrophen-Erfahrungen gefördert wurde; ihren Niederschlag fand diese neu erwachte Faszination in einer beträchtlichen Zahl von 'Pest-Büchern', deren Seriositäts-Grad sich in einem breiten Spektrum zwischen 'wissenschaftlich hoch' und 'reißerisch niedrig' bewegt. Legt man eine solche Grobkategorisierung zugrunde, so gehört die vorliegende Studie ohne Frage in die oberste Schicht.
Anspruchsvoll ist schon ihre Themenstellung: Erfassung, Beschreibung und Interpretation der in Frankreich und England publizierten Texte, die das Auftreten der Seuche zwischen Oktober 1347 (Sizilien) und September 1722 (Hinterland von Marseille, Languedoc, Roussillon) schildern und zu erklären versuchen. Dabei fiel der Ausstoß an Pest-Traktaten in beiden Ländern sehr ungleich aus, und zwar mit einem deutlichen Überhang auf Seiten der französischen Autoren, Drucker und Verleger. Der Entstehung solcher Publikationen, von der Schreckenserfahrung des plötzlichen Massensterbens bis zur intellektuellen Verarbeitung in Form eines Textes und dessen Herstellung, Verbreitung und Vermarktung, sind die beiden ersten Kapitel gewidmet. Sie sind als die innovativsten und für die Forschung nützlichsten der Untersuchung zu bewerten, vor allem durch die minutiöse Erfassung, Datierung und Kurz-Kontextualisierung dieser vielfach miteinander vernetzten Abhandlungen, die über ausgedehnte Zeitabstände hinweg aufeinander Bezug nehmen, und das heißt: über weite Strecken voneinander abschreiben und scheinbar gesichertes 'Pestwissen' auf diese Weise tradieren.
Die Frage, was sich in Wahrnehmung, Bestandsaufnahme, Diagnostik, Erklärungsmustern und Therapievorschlägen im Laufe von dreidreiviertel Jahrhunderten gewandelt, verschoben und neu akzentuiert hat und was als Konstanten der 'Pest-Deutung' weitergegeben wird, steht im Zentrum der Kapitel drei und vier, die eine Verortung der Texte in Zeit und Raum, also im kulturellen Umfeld, in Gesellschaft und Politik, zum Ziel haben. Dabei gelangt die Autorin zu einem für die 'Seuchen-Experten' Alteuropas erstaunlich positiven, ja geradezu schmeichelhaften Ergebnis: Perzeption und Interpretation des Seuchengeschehens in seiner Gesamtheit, das heißt einschließlich seiner Auswirkungen auf Öffentlichkeit und privates Leben, hätten zuerst durch die Einflüsse der Humanisten und dann durch die Ideen der Frühaufklärer wesentlich an Tiefenschärfe und 'Realitätsnähe' gewonnen.
Dieser Bilanz ist aus einer gesamteuropäischen Perspektive nur sehr bedingt zuzustimmen. Gewiss, die Beobachtung und historische Einordnung der 1347/48 gleichsam aus dem Nichts hereinbrechenden Szenarien des Grauens werden durch die im Laufe des 15. Jahrhunderts stetig intensivierte Beschäftigung mit den Texten des Altertums, speziell mit dem Bericht des Thukydides über die tödliche Seuche in Athen, vertieft und danach durch die Erfahrung der konfessionell-militärischen Konflikte des 16. Jahrhunderts zunehmend vom Himmel auf die Erde herabgeholt, doch an der generellen Hilflosigkeit, motivischen Erklärungsarmut und methodisch konservativen Grundhaltung im Angesicht des Massensterbens ändert sich unter dem Blickwinkel der longue durée erstaunlich wenig.
Vollends anfechtbar erscheint die These, dass die Humanisten zu einer Differenzierung der medizinischen Bestandsaufnahmen beigetragen haben sollen; in der Tradition des bekennenden Ärzte-Verächters Francesco Petrarca ist eher das Gegenteil zu belegen. Zudem sind diese 'innerweltlichen' Deutungsmodelle, die von den Phobien der Vergiftung durch verleumdete Minderheiten bis hin zu einer Ansteckung durch zu enge Körperkontakte reichen, nicht neu, sondern mit einzelnen dieser Motive bereits in den italienischen Debatten der Jahre 1347 bis 1349 präsent. Gerade unter diesem Gesichtspunkt hat die Beschränkung der Untersuchung auf die Pest-Diskurse in zwei Ländern eine Verengung des Blickwinkels zur Folge. Erst in einem europäischen Vergleichsrahmen lassen sich signifikante Unterschiede im Verständnis der Seuche und im Umgang mit ihr herausarbeiten, zum Beispiel, was die Suche nach Sündenböcken und die Verfolgung angeblicher Pest-Verbreiter betrifft - Phänomene, die südlich der Alpen insgesamt sehr viel seltener anzutreffen sind als im Norden.
Bedauerlich und eine erhebliche Einschränkung des Deutungs-Radius und Deutungs-Anspruchs der Studie ist die auf S. 246 erklärte Ausklammerung der 'Religion' als Faktor der Pestwahrnehmung und -deutung. In Anbetracht der Tatsache, dass den gesamten behandelten Zeitraum hindurch die Theologen aller christlichen Kirchen und Konfessionen eine Pestdeutungs-Hegemonie einforderten, die sie bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts weitgehend unangefochten vor Medizinern und Astrologen (die ebenfalls nicht ausführlicher berücksichtigt werden) auch durchzusetzen vermochten, verschließt sich die Untersuchung dadurch wesentlicher historischer Motive und Dimensionen. So kommt einer der Protagonisten der ersten Pestwelle in Europa und Frankreich, der französische, in Avignon residierende Papst Clemens VI. (1342-1352) als Interpret, Ideengeber und Akteur überhaupt nicht vor, obwohl der Aristokrat auf dem Stuhl Petri mit seiner 'Pestbulle' "Quamvis perfidiam" vom September 1348 und mit seiner zur Beendigung der Pest als Gottesstrafe neu zusammengestellten 'Pestmesse' entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung der Seuche und ihre Bekämpfung gewonnen hat.
So lautet das Fazit: Eine durch seine Materialfülle und viele relevante Informationen im Einzelnen bemerkenswerte und nützliche, in der Interpretation der Texte und ihrer ideengeschichtlichen Verknüpfung jedoch weniger ergiebige und daher insgesamt eher blasse Studie.
Volker Reinhardt