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Ralph Jessen: Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt. Einführung, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 10 [15.10.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
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Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt

Einführung

Von Ralph Jessen

Im Pandämonium einer angeblichen westlichen Kolonisierung der ostdeutschen Bundesländer besetzt die Treuhandanstalt seit Jahren einen prominenten Platz. "Der deutsche Goldrausch", "Fette Beute", "Raubzug Ost", "Abgewrackt" lauteten die Titelstichworte einschlägiger Publikationen. Die noch vor der deutschen Vereinigung von der demokratisch legitimierten Volkskammer im Juni 1990 gegründete Großbehörde sollte die verstaatlichten Unternehmen der DDR möglichst rasch privatisieren und den Weg zu marktwirtschaftlichen Verhältnissen ebnen. Als sie Ende 1994 ihre Arbeit einstellte, war dies gelungen, freilich zu einem hohen Preis: Zahlreiche Betriebsschließungen, regionale Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit waren die düsteren Begleiterscheinungen des von der Treuhandanstalt administrierten Strukturwandels. Viele Betroffene schrieben die sozialen Kosten des Übergangs in die privatkapitalistische Ordnung nicht auf das Konto der untergegangenen Staatsplanwirtschaft, deren marode Hinterlassenschaften unter Marktbedingungen oft keine Chance hatten, sondern der Treuhandanstalt, deren Privatisierungspraxis - so ein verbreiteter Vorwurf - auf die rücksichtslose Durchsetzung neoliberaler Glaubenssätze hinauslaufen würde. Wie virulent diese Sicht bis heute ist, zeigen die wiederholten Forderungen etwa aus Kreisen der Partei "Die Linke", das "Treuhand-Unrecht" und die "Treuhand-Schicksale" im Rahmen einer Enquetekommission des Bundestages "aufzuarbeiten". Auch die AfD-Propaganda bediente sich in den letzten Jahren gern dieses Narrativs. In den Deutungs- und Anerkennungskämpfen der „Vereinigungsgesellschaft“ entwickelte sich die Erinnerung an „die Treuhand“ zum negativen Gründungsmythos einer ostdeutschen Opferidentität, während die damaligen Entscheidungen aus westdeutscher Perspektive oft mit der Aura der Alternativlosigkeit einer zwar schmerzhaften, aber unvermeidlichen Modernisierungszäsur umgeben und gegen Kritik abgeschirmt wurden.

Gegenüber solchen einerseits erfahrungsgestützten, andererseits durch griffige master narratives gebündelten Deutungsmustern hat es die historische Forschung immer schwer. Ihr Geschäft ist ja in der Regel die Differenzierung und Kontextualisierung und - wenn es gut geht - die Entmystifizierung identitätsstiftender Erinnerungskonstrukte. Meist wird die Geschichte dadurch nicht einfacher, sondern komplizierter. Und so ist es auch bei der wissenschaftlichen Historisierung der "Treuhandanstalt". Vier Jahre nach der maßstabsetzenden Pionierstudie von Marcus Böick aus dem Jahr 2018 ("Die Treuhandanstalt. Idee - Praxis - Erfahrung. 1990-1994") werden seit letztem Jahr die Ergebnisse eines am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) betriebenen Großforschungsvorhabens zur Geschichte dieses "Laboratoriums der Marktwirtschaft" publiziert. Die ersten fünf der auf elf Bände angelegten "Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt", die seit 2022 im Ch. Links Verlag erscheinen, werden hier besprochen. Drei weitere, darunter die Untersuchungen von Eva Schäffler zur Coupon-Privatisierung in Tschechien und von Florian Peters zur polnischen "Schocktherapie", sind 2023 hinzugekommen. Nachdem es sich zunächst mit den Institutionen des NS-Staats und personellen Kontinuitäten in der Bonner Republik sowie jüngst auch den dunklen Seiten der bundesrepublikanischen Geschichte (Stichwort "Verschickungskinder") befasst hat, erreicht das boomende Genre der "Behördenforschung", das seit etlichen Jahren ein Gutteil der zeithistorischen Forschungskapazitäten unterhält und bindet, nun auch die Geschichte des vereinten Deutschlands. Erstmals geht es dabei um einen Gegenstand, dessen Konflikt- und Polarisierungspotential noch nicht durch Zeitablauf und Generationenwechsel abgeschliffen und einen recht weitgehenden erinnerungskulturellen Konsens kalmiert wurde, sondern um eine Geschichte, die immer noch brodelt. Man darf gespannt sein, was dies für die öffentliche Rezeption der Treuhandforschungen bedeutet.

Potential zur Rationalisierung der Debatte und zur Entmystifizierung der Treuhand-Erinnerung dürften die hier vorgestellten Bände allemal haben - falls sie denn über den engeren Kreis der zeithistorischen Experten hinaus Resonanz finden. Dafür spricht erstens ihre umfassende Quellenfundierung. Die Projektbearbeiter des IfZ profitierten von der vorzeitigen Aufhebung der Sperrfristen für die Treuhandbestände im Bundesarchiv, so dass sie ihre Untersuchungen auf breiter Materialgrundlage betreiben konnten. "Quellengesättigt" ist eines der häufigsten Attribute, mit denen die Rezensenten die besprochenen Studien charakterisieren. Die Erhebung, Verarbeitung und Bereitstellung gesicherter Fakten ist zumindest eine notwendige, wenn auch noch keine hinreichende Bedingung für ein differenziertes historisches Urteil.

Zweitens gehen die Einzelprojekte das Thema in unterschiedlichen Zuschnitten und Perspektivierungen an. Der von Dierk Hoffmann herausgegebene Sammelband fasst einige davon in Kurzform zusammen, die monographischen Bände gehen in die Tiefe. Neben eher organisationsgeschichtlichen Zugriffen (Malycha) gibt es eine regionale Vertiefungsstudie zur Arbeit der Treuhand im Land Brandenburg (Knoll) sowie Untersuchungen zu zwei unmittelbar betroffenen Akteursgruppen: So wird das verbreitete Fehlurteil korrigiert, dass die Gewerkschaften keinerlei Einfluss auf die Arbeit der Treuhand hatten (Rau), während eine weitere Arbeit konstatiert, dass die mittelstandspolitischen Ambitionen des Treuhandprozesses wenig Wirkung hatten (Trecker). Weitere, hier nicht besprochene bzw. noch nicht erschienene Bände sind branchenspezifischen Entwicklungen gewidmet oder werfen vergleichende Blicke auf die Privatisierungspolitik benachbarter Länder.

Drittens zeichnen sich in der Aspekt- und Materialfülle der Studien übergreifende Befunde ab - nur auf einen sei hier verwiesen. Zweifellos wurde der Treuhandprozess von westdeutschen Akteuren dominiert und orientierte sich an westlich geprägten Vorstellungen privaten Unternehmertums und marktwirtschaftlicher Ordnung. Aber gerade wegen ihrer bundesrepublikanischen Prägung war die Treuhandanstalt kein neoliberaler Moloch, sondern stand eher in der "rheinischen" Tradition eines staatszentrierten Korporatismus.


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