Wolfgang-Rüdiger Knoll: Die Treuhandanstalt in Brandenburg. Regionale Privatisierungspraxis 1990-2000 (= Studien zur Geschichte der Treuhandanstalt), Berlin: Ch. Links Verlag 2022, 703 S., 19 s/w-Abb., ISBN 978-3-96289-173-2, EUR 38,00
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Zum Thema "Treuhandanstalt" finden sich fast 30 Jahre nach ihrer Auflösung über 1.000 Forschungsbeiträge. Nun ist mit "Die Treuhandanstalt in Brandenburg" ein weiteres voluminöses Werk hinzugekommen. Zum marktwirtschaftlichen Umbau der sozialistischen Planwirtschaft der untergegangenen DDR, den die "Treuhand" bewirken sollte, können nach der Freigabe von Treuhandakten auch heute noch neue Erkenntnisse gewonnen und alte Vermutungen bestätigt oder widerlegt werden.
Die im Rahmen des Forschungsschwerpunktes "Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte" am Institut für Zeitgeschichte München-Berlin (IfZ) erarbeitete Studie ist eine akribisch recherchierte, quellengesättigte Darstellung des Wirkens der Treuhandanstalt in einer höchst vielfältigen mitteldeutschen Industrieregion. Im Zentrum stehen die Transformation des Braunkohlentagebaues und der Energiewirtschaft, von Betrieben der Stahlindustrie und des Anlagen- und Fahrzeugbaues, der Textilindustrie, der Luftfahrt (Interflug), der Landwirtschaft und der Fleischproduktion. Dabei ist der Autor zahlreichen Einzelprivatisierungen auf den Grund gegangen ebenso wie dem politisch-ökonomischen Gesamtkomplex der Treuhandtätigkeit in dem rund um Berlin gelegenen flächengrößten der neuen Bundesländer.
"Brandenburger Weg" nannte man die auf Kompromiss und Ausgleich gerichtete Vereinigungs- und Transformationspolitik in dem 1990 aus Teilen der DDR-Bezirke Cottbus, Frankfurt (Oder) und Potsdam erstandenen Bundesland. Politiker der ersten Stunde - Manfred Stolpe (Ministerpräsident, SPD), Peter-Michael Diestel (CDU), Lothar Bisky (PDS), Marianne Birthler (Bündnis 90) - waren in Brandenburg weniger auf Konfrontation bedacht als es in den anderen neu entstandenen Bundesländern der Fall war. Viele Gesetzentwürfe, darunter eine neue Landesverfassung, wurden einvernehmlich von Regierungs- und Oppositionsparteien verabschiedet. Dies galt als "Idealfall konsensueller Politikgestaltung" (598), die auch in der Bevölkerung hohes Ansehen genossen hat. Ob das Einvernehmen auch auf die von der Berliner Treuhandanstalt verantwortete sozioökonomische Transformation in Brandenburg zutrifft, ist eine der Fragen, denen der Historiker Wolf-Rüdiger Knoll in seiner 2022 vorgelegten, 702 Seiten umfassenden Studie zur regionalen Privatisierungspraxis der Treuhandanstalt in Brandenburg 1990-2000 nachgeht.
Das Aktenmaterial, das die Treuhandanstalt mit ihrer Auflösung 1995 hinterlassen hat, umfasst aneinandergereiht 40 Kilometer Regallänge. Davon wurden inzwischen 12 Kilometer, etwa 200.000 Akten, als Archivgut zur freien Verwendung ins Bundesarchiv eingestellt. Das ist der Fundus, der der Geschichtswissenschaft zur Verfügung steht und dessen sich der Autor frei bedienen konnte. Sein Interesse galt Privatisierungsfällen im Widerstreit unterschiedlicher Interessen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der bereits in frühen Forschungsbeiträgen zeitgenössischer Begleitforschung vermittelte Eindruck, wonach die Regierungspolitik in Bund und Ländern das Treuhandgeschehen weit stärker beeinflusste als man es im öffentlichen Diskurs der 1990er Jahren erfahren hat, wird in dem nun vorliegenden Band vollauf bestätigt. Noch stärker als bislang vermutet, beeinflussten sich die brandenburgische Landesregierung und die Treuhandanstalt gegenseitig in ihren Entscheidungen. Zugleich zeigt sich, dass die für Klein- und Mittelbetriebe zuständigen Bezirksniederlassungen der Treuhandanstalt von politischem Einfluss unbehelligt und damit autonomer als die mit der DDR-Kombinatswirtschaft befasste Berliner Treuhandzentrale agieren konnten. Damit wird die populäre Vorstellung einer allmächtigen "Nebenregierung-Ost" abgeschwächt und die Funktion der Berliner Treuhandzentrale als "Blitzableiter" der deutschen Vereinigungs- und Wendepolitik bestätigt. Sie zog Kritik, Hass und Protest auf sich, während Bundes- und Landesregierungen, voran die brandenburgische, als sozialpolitische "Wundheiler" der Treuhandpolitik auftraten.
Die brandenburgische Landesregierung hatte frühzeitig die sozialpolitische Abfederung von Treuhandentscheidungen zur Priorität erhoben und sich zu dem Zweck deutlich höher verschuldet als andere neue Bundesländer. Die Mittel speisten eine aktive Arbeits- und Sozialpolitik, auf die man, wie der Autor zeigt, in Potsdam größtes Gewicht gelegt hatte. Die Ausgaben sollten zahlreichen Protestaktionen im Zusammenhang mit Entlassungswellen und Privatisierungen der Treuhandanstalt entgegenwirken. Diese in wechselseitiger Abstimmung und Ergänzung der Treuhandpolitik gewählte Strategie der Befriedung sozialer Konflikte erwies sich als politisch und ökonomisch erfolgreich. Davon zeugen seit 1990 ununterbrochen SPD-geführte Landeregierungen, neun Kabinette, an denen - sofern es sich um Koalitionsregierungen handelt - die FDP, die CDU, die Linkspartei und zuletzt Bündnis90/Grüne beteiligt waren.
Das heißt nicht, dass Brandenburg von Gaunereien und missglückten Privatisierungen der Treuhandanstalt verschont geblieben wäre. Der Autor verschweigt diese nicht, kann andererseits aber mit einer Reihe langfristig erfolgreicher Projekte aufwarten. Als die Zusammenarbeit von THA und Landesregierung begann befand sich das erste Kabinett gerade einen Monat im Amt. Zu dem Zeitpunkt waren bereits 15 Brandenburger Unternehmen privatisiert und weitere 105 Gegenstand von Privatisierungsverhandlungen, wie aus einem Vermerk zum Treffen des THA-Vorstands mit Ministerpräsident Stolpe und weiteren Kabinettsmitgliedern am 30.11.1990 hervorgeht (145). Es war der Beginn einer wechselhaften Beziehung mit Höhen und Tiefen, die der Autor in acht Kapiteln und 22 Unterkapiteln abhandelt. Ein Tabellen- und Abbildungsverzeichnis, Quellen- und Literaturverzeichnis, Abkürzungsverzeichnis und Personenregister runden den sorgfältig editieren Band ab.
Das Werk enthält kein abschließendes Urteil über das von der Treuhandanstalt geprägte Kapitel der frühen Vereinigungspolitik und der jüngeren deutschen Industriegeschichte. Gleichwohl ist es ein Meilenstein auf dem Weg zur detaillierten, quellenbasierten Rekonstruktion von Strukturen, Ereignissen und Zusammenhängen des von der THA maßgeblich verantworteten marktwirtschaftlichen Aufbaues-Ost. Die historische Detailtreue der Darstellung, die Einordnung einzelner Vorgänge in einen Gesamtkomplex, die Entmystifizierung der vielfach als Willkürapparat empfundenen Treuhandanstalt und nicht zuletzt seine gute Lesbarkeit empfehlen den Band als Ausgangspunkt für weitere Forschungen und als spannende zeitgeschichtliche Lektüre.
Roland Czada