Rezension über:

Simon Karstens: Untergegangene Kolonialreiche. Gescheiterte Utopien in Amerika, Wien: Böhlau 2022, 291 S., 16 Farbabb., ISBN 978-3-205-21471-7, EUR 39,00
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Rezension von:
Jasper Trautsch
Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
Redaktionelle Betreuung:
Bettina Braun
Empfohlene Zitierweise:
Jasper Trautsch: Rezension von: Simon Karstens: Untergegangene Kolonialreiche. Gescheiterte Utopien in Amerika, Wien: Böhlau 2022, in: sehepunkte 23 (2023), Nr. 11 [15.11.2023], URL: https://www.sehepunkte.de
/2023/11/37199.html


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Simon Karstens: Untergegangene Kolonialreiche

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Das vorliegende Buch, das zwölf gescheiterte koloniale Unternehmungen von Europäern in Nord- und Südamerika zwischen 1528 und 1617 zum Thema hat, ist eine für die allgemeine Leserschaft umgearbeitete, gekürzte und auf Fußnoten verzichtende Version der deutlich umfangreicheren Trierer Habilitationsschrift des Autors, die in ihrer Originalfassung ebenfalls im Böhlau-Verlag erschienen ist. Es basiert vor allem auf veröffentlichten bzw. digitalisierten Quellen zeitgenössischer Berichte, aber auch einer breiten Rezeption der Forschungsliteratur.

Die Kolonialprojekte behandelt Karstens jeweils getrennt voneinander in insgesamt zwölf Kapiteln und geht dabei geographisch von Nord nach Süd entlang der Ostküste Amerikas vor. Dies sind: 1.) der von der Hoffnung, eine Nordwestpassage zum Pazifik sowie Goldquellen zu finden, getragene englische Versuch, die sich in Permafrost befindende Insel Baffin westlich von Grönland zu kolonisieren, 2.) die entsprechenden französischen Bemühungen, am Sankt Lorenz einen Seeweg nach China und dabei Edelmetalle zu entdecken, zusätzlich aber auch einen Pelzhandel mit den indigenen Stämmen aufzubauen, 3.) das englische Bestreben, sich durch die Gründung einer Kolonie in Neufundland die besten Plätze für die Trocknung von Kabeljau aus den ertragreichen Fischfanggründen bei der Neufundlandbank zu sichern, 4.) die durch die Ziele, Pelzhandel mit den Indigenen zu treiben und sie zu missionieren, motivierte französische Ansiedlung in Akadien, 5.) die spanische Inanspruchnahme der Chesapeake-Bucht, durch die man den spanischen Einflussbereich nach Norden ausdehnen und die Einheimischen christianisieren wollte, 6.) die Gründung der ursprünglich als Basis für Kaperzüge gegen spanische Schiffe gedachten, dann aber auf Landwirtschaft und Handwerk basierenden englischen Siedlerkolonie auf der Insel Roanoke vor dem heutigen North Carolina, 7.) das von vielfältigen ökonomischen, religiösen und politischen Interessen bestimmte französische Kolonialprojekt in Florida, 8.) die von der Suche nach Gold geprägte deutsche Gründung der Siedlung Coro im Norden Südamerikas, 9.) die vom Traum vom sagenumwobenen El Dorado bestimmte englische Expedition ins Orinoco-Delta, 10.) die von Geistlichen des Kapuzinerordens geführte französische Siedlung in Nordbrasilien (France Equinoxiale), 11.) die französische Festungskolonie an der Bucht von Rio de Janeiro (France Antarctique) und 12.) die spanische Militärbasis an der Magellanstraße, die die einzige damals bekannte Passage zwischen Atlantik und Pazifik kontrollieren sollte. Am Ende jeden Kapitels befindet sich zudem noch eine kurze Beschreibung des überlieferten Quellenmaterials sowie der relevanten geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen.

Für die deutschsprachige Leserschaft ist Karstens' kompakte Darstellung dieser gescheiterten Kolonien, die nicht nur bekannte Unternehmungen wie jene von Sir Walter Raleigh oder von Jacques Cartier und Samuel de Champlain, sondern auch im öffentlichen Bewusstsein in Vergessenheit geratene Projekte wie jene von den Welsern aus Augsburg finanzierte Expedition in Venezuela behandelt, von besonderem Interesse, da der Autor die gängige Erinnerung an die europäische Inbesitznahme von Nord- und Südamerika in zweierlei Weise in Frage stellt. Erstens ist Untergegangene Kolonialreiche. Gescheiterte Utopien in Amerika ein Korrektiv zu den Erfolgsnarrativen des europäischen Expansionsprozesses über den Atlantik hinweg. Karstens' Buch zeigt, dass Versuche, Kolonien jenseits des Atlantiks zu gründen, äußerst risikobehaftete und häufig in Bankrott, Leid und Tod endende Unternehmen waren. Zweitens steht das Buch in einem deutlichen Widerspruch zu Darstellungen, die sich ausschließlich oder vor allem auf die Handlungsmacht der europäischen Kolonisten stützen. Karstens macht deutlich, dass über Erfolg oder Scheitern eines kolonialen Projekts auch die Handlungen der indigenen Bevölkerungen entschieden. Sie waren mit den Ressourcen, die das Land bereitstellte, aber auch den Gefahren, die es in sich barg, vertraut, und ob sie die Kolonisten unterstützten (etwa durch Nahrungslieferungen, Schutz vor anderen indigenen Gruppen oder das Teilen von lokalem Wissen) oder ob sie sie bekämpften oder mit Falschinformationen versorgten, war ein entscheidender Faktor dafür, ob ein koloniales Projekt Chancen auf Erfolg hatte oder zum Scheitern verurteilt war. Wie Karstens belegt, verfolgten die Indigenen als selbstständige Akteure ihre jeweils eigenen Interessen und waren den Entscheidungen der Europäer keinesfalls hilflos ausgesetzt, sondern manipulierten europäische Kolonisten durchaus erfolgreich, spielten sie gegeneinander aus oder spannten sie für ihre eigenen Fehden mit anderen Stämmen ein. Dabei relativiert Karstens keinesfalls das Leid, das die Europäer - etwa durch die Einführung von Krankheiten oder die gezielten Tötungen - den Indigenen auch bei letztlich gescheiterten kolonialen Unternehmungen antaten.

Hierin liegt denn auch das große Verdienst von Karstens' Untersuchung: dass er die Wahrnehmungen, Interessen, Handlungsoptionen und Entscheidungen der indigenen Bevölkerungen rekonstruiert und gegenüber den Motivationen und Taten der Kolonisten gleichgewichtig behandelt. Besonders erhellend ist auch, dass Karstens keinesfalls stets Europäer und Indigene als mehr oder weniger homogene Gruppen einander gegenüberstellt, sondern auch die Spannungen und Rivalitäten innerhalb dieser Gruppen und die Dynamiken und mitunter unbeabsichtigten Folgen, die sich daraus für die Kolonialprojekte und ihren Erfolg bzw. Misserfolg ergaben, herausarbeitet.

Besonders hervorzuheben ist diesbezüglich, wie souverän Karstens mit der problematischen Quellenlage umgeht: Denn obwohl fast alles, was über die Geschehnisse in Amerika im 16. und frühen 17. Jahrhundert bekannt ist, von Europäern überliefert wurde, gelingt es ihm, den indigenen Akteuren, soweit es eben möglich ist, eine eigene Stimme zu verleihen, indem er die zur Verfügung stehenden Quellen kritisch miteinander vergleicht, die darin zum Ausdruck kommenden Vorstellungswelten, Stereotype und Konventionen und damit die Grenzen des Sagbaren bestimmt, die Interessen, die mit dem Abfassen der Dokumente und Bilder verfolgt wurden, bei der Interpretation berücksichtigt und die historischen Quellen immer wieder auch mit Erkenntnissen archäologischer und anthropologischer Untersuchungen in Verbindung bringt.

Ebenso lobenswert ist die Tatsache, dass Karstens die vorhandenen Quellen nicht nur dazu nutzt, die Geschehnisse an der amerikanischen Ostküste zu Beginn der Frühen Neuzeit zu rekonstruieren, sondern sie auch darauf hin untersucht, wie die Akteure ihre Erfahrungen in einen größeren religiösen, politischen und kulturellen Erklärungskontext einzubinden versuchten und Fragen der Selbst- und Fremdwahrnehmung verhandelten. Somit leistet er auch einen Beitrag zur Diskursgeschichte der europäischen Entdeckung und Aneignung Amerikas.

Schließlich ist das Buch lesbar und unterhaltsam geschrieben und zeugt von Feingespür für die Antriebskräfte, Hoffnungen, Erwartungen, Ängste und Widersprüche der handelnden Akteure sowie für die Situationen, in denen sie sich befanden und in denen sie weitreichende Entscheidungen fällen mussten, die oftmals fatale Folgen hatten und häufig auf spärlichen, mehrdeutigen oder gar falschen Informationen fußten.

Was leider fehlt, ist eine abschließende Diskussion, die die verschiedenen Kapitel in Verbindung zueinander setzt. Gerade da das Buch seinen Untersuchungsgegenstand nicht systematisch erschließt, sondern die Kolonialprojekte separat analysiert, wäre eine Gewichtung der verschiedenen Ursachen für den Untergang der Kolonien (klimatische Bedingungen, Naturkatastrophen, Nahrungsmittelknappheit, Feindseligkeiten der indigenen Bevölkerungsgruppen, Krankheiten, interne Rivalitäten, ungeklärte Führungshierarchien, unzureichende finanzielle Mittel bzw. fehlendes Personal, lange Transportwege, Kriege mit anderen europäischen Kolonialmächten, interkulturelle Missverständnisse) sowie eine zusammenfassende Einschätzung der Handlungsfähigkeiten der europäischen und indigenen Akteure am Ende hilfreich gewesen.

Jasper Trautsch