Rezension über:

Christopher Spehr / Roland M. Lehmann (Hgg.): Diskriminierung von Christen in der DDR. Band 1: Militarisierung und Widerstand in den 1960er Jahren (= Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen; Bd. 88), Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, 357 S., 9 Farb-Abb., ISBN 978-3-525-50012-5, EUR 110,00
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Rezension von:
Josef Schmitt
Ruhr-Universität Bochum
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Josef Schmitt: Rezension von: Christopher Spehr / Roland M. Lehmann (Hgg.): Diskriminierung von Christen in der DDR. Band 1: Militarisierung und Widerstand in den 1960er Jahren, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 2 [15.02.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/02/38538.html


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Christopher Spehr / Roland M. Lehmann (Hgg.): Diskriminierung von Christen in der DDR

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"Man könnte meines Erachtens sogar sagen: Die Kirche in der DDR war eine Schule der Demokratie". (346) Im Kontext der evangelischen Kirche habe es die einzigen freien und demokratischen Wahlen in der DDR gegeben, erinnert sich Rainer Eppelmann. Darüber hinaus berichtet er in dem von Roland M. Lehmann geführten Interview am Ende des Sammelbands von seinem christlich motivierten Widerstand und den eigenen Diskriminierungserfahrungen als Bausoldat bei der Nationalen Volksarmee (NVA). Er hatte sich geweigert, den Fahneneid abzulegen. Durch seine Erfahrungen während seiner Inhaftierung habe er später weniger Angst vor Befehlen und den potentiellen Konsequenzen einer Verweigerung gehabt. Er betonte die Mitwirkung einiger Bausoldaten in der friedlichen Revolution und hob die Bedeutung des westlichen Fernsehens hervor. Die bundesdeutschen Medien hätten nicht nur den meisten Menschen in der DDR gezeigt, wie in Westdeutschland gelebt werde, sondern auch massenhafte Ausreisen und Proteste publik gemacht. Der SED sei es daher unmöglich gewesen, diese Entwicklung zu verheimlichen.

Vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen mit der NVA und seiner späteren Tätigkeit als Minister für Abrüstung und Verteidigung der letzten DDR-Regierung kann Rainer Eppelmann als ein exponiertes Beispiel gesehen werden, an dem die Diskriminierung von Christen in der DDR im Kontext der Militarisierung deutlich werden kann. Diesen Schwerpunkt setzt der vorliegende Sammelband, der durch das Interview bestens komplettiert wird.

Der Band gliedert sich in fünf Hauptteile. Nach einer kurzen Einführung der Herausgeber folgen die Beiträge von Detlef Pollack, Claudia Lepp, Klaus Fitschen und Kristina Koebe mit Fokus auf die in den 1960er Jahren durch den sozialistischen Staat vorangetriebene Militarisierung der Gesellschaft. Claudia Lepp weitet dabei den Blick, indem sie die "Remilitarisierung" in beiden deutsche Staaten und die Haltungen der evangelischen Kirchen beleuchtet. Sie wählt dazu einen gewinnbringenden Ansatz, der in Anlehnung an Petra Webers "Parallel-, Kontrast-, Vergleichs-, Perzeptions- und Beziehungsgeschichte" [1] nicht nur verbindende und trennende Elemente hervorhebt, sondern auch beziehungsgeschichtliche Aspekte deutlich macht. Die evangelischen Kirchen seien dafür besonders geeignet, da sie trotz ihrer Verortung in zunehmend verschiedener werdenden Gesellschaften im Untersuchungszeitraum durch die EKD noch grenzübergreifend organisiert waren und daher von einer regen gegenseitigen Beeinflussung ausgegangen werden könne. Deutlich wird dies beispielsweise mit Blick auf die Wehrdienstfrage. Vertreter der EKD befürchteten, dass die SED die Einführung der Wehrpflicht in der Bundesrepublik 1956 ihrerseits zum Anlass nehmen werde, eine allgemeine Wehrpflicht in der DDR zu etablieren, durch die junge Männer für 18 Monate einer direkten ideologischen Beeinflussung ausgesetzt wären. Dies würde, so die Kirchenvertreter damals, die Teilung Deutschlands weiter vorantreiben. Die verantwortlichen bundesdeutschen Minister verwiesen im Gespräch mit den Vertretern der EKD dagegen auf die internationalen Verpflichtungen der Bundesrepublik. Lepp stellt heraus, dass auch auf Seiten der DDR eine Aussprache stattfand, dessen Erfolg weniger in den Gesprächsinhalten gelegen habe, sondern eher darin, dass eine solche Unterredung mit Regierungsvertretern überhaupt erfolgt sei. Die Kirchen unterstrichen in beiden Staaten, dass sie das Militär weiterhin als ihr Betätigungsfeld betrachteten.

Der Beitrag von Kristina Koebe über die Wehrerziehung im DDR-Unterricht der 1960er Jahre scheint mit Blick auf die Schwerpunktsetzung des Sammelbandes zunächst etwas aus der Reihe zu fallen, da er sich nicht mit dem Christentum auseinandersetzt. Durch Koebes Feststellung, die Wehrerziehung habe schon vor der offiziellen Einführung des Wehrunterrichts 1978/79 Schülerinnen und Schüler in der DDR geprägt, kann sie dem Band einen Exkurs beisteuern, der deutlich macht, welche Bedeutung die Wehrerziehung im Schulalltag - zwangsläufig auch für Christen - hatte. Dabei habe in den 1960er Jahren die konkrete Umsetzung noch vom Engagement der einzelnen Lehrkräfte abgehangen.

Im zweiten Teil des Bandes befassen sich Hans-Hermann Dirksen, Heiner Bröckermann, Christian Steiner und Henning Pietzsch mit der Auseinandersetzung sowie dem Umgang des sozialistischen Staats mit christlich motivierter Opposition und widerständigem Handeln. Im dritten Teil erarbeiten Albert Scher und Roland M. Lehmann die theoretischen Grundlagen für den vierten Teil, in dem sie Verbindungen zwischen Diskriminierungsforschung und Kirchengeschichte aufzeigen.

Darauf aufbauend befassen sich die Autoren im vierten Teil mit der Diskriminierungspraxis. Hier weitet sich nun auch deutlich der konfessionelle Blickwinkel, was eine der Stärken des Sammelbandes ist. Christopher Spehr nimmt den "Thüringer Weg" der thüringischen Landeskirche in den Blick. Diese Formulierung geht auf die Zeit des Nationalsozialismus zurück, in der die Thüringer Landeskirche durch eine besonders rassistische und antisemitische Strömung, den Thüringer Deutschen Christen, entscheidend beeinflusst wurde. Mit Blick auf die DDR erhielt der "Thüringer Weg" eine neue Konnotation. Für diese Zeit sei eine besonders "systemkonforme und staatsloyale Haltung der Hauptvertreter der Thüringer Landeskirche seit den späten 1950er Jahren" (219) gemeint. Während der Begriff "Thüringer Weg" in den 1990er Jahren umstritten war, sei er heute als Beschreibung der positiven Haltung der thüringischen Landeskirche gegenüber dem SED-Staat gebräuchlich.

Darüber hinaus analysiert Jörg Seiler aufbauend auf Überlegungen von Josef Pilvousek die Diskriminierung katholischer Christen in der DDR in den 1960er Jahren. Roland Cerny-Werner setzt sich mit der vatikanischen Perspektive auf die Lage der katholischen Kirche in der DDR auseinander. Frank Bersch beschreibt die Situation der Zeugen Jehovas in der DDR und Bernhard Thiessen die Lage der Mennoniten.

In Bezug auf die Militarisierung der DDR-Gesellschaft ergänzt der Sammelband bereits vorhandene Literatur und fügt mit der Schwerpunktsetzung auf die Diskriminierung von Christen neue Aspekte hinzu. Grundsätzlich erscheint die Herangehensweise, die kirchliche Zeitgeschichte und das Leben von Christen in der DDR von ihrer unterschiedlich stark ausgeprägten Diskriminierung her zu beleuchten, gewinnbringend. Auf diese Weise können anhand der Kirchen- und Christentumsgeschichte die herrschenden Logiken hinter den staatlichen Repressionen und die Funktionsweise von Diskriminierung im Kontext der DDR besser verstanden werden.


Anmerkung:

[1] Vgl. Petra Weber: Getrennt und doch vereint. Deutsch-deutsche Geschichte 1945-1989/90, Berlin 2020, 15.

Josef Schmitt