Dalia Leinarte: Family and the State in Soviet Lithuania. Gender, Law and Society (= Library of Modern Russia), London: Bloomsbury 2021, 226 S., ISBN 978-1-350-13609-0, GBP 95,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Die Annexion und folgende politische Integration Litauens in die Sowjetunion 1941 hatte nicht zuletzt wegen der Deportationen und des Terrors weitreichende Folgen für die litauische Gesellschaft. Die Bevölkerungsstruktur veränderte sich auch durch die Emigration zahlreicher Litauer nach Westen. Das Paradigma der sozialistischen Gesellschaft hatte massive Auswirkungen auf die Entwicklung der familiären Strukturen und Werte. Frauen und Familien waren als wichtige Aspekte der sozialistischen Ideologie Ziel sozialpolitischer Maßnahmen geworden: Gesellschaftliche Veränderungen ergaben sich aus der formalen Gleichstellung der Geschlechter, was zur Folge hatte, dass Frauen zwar für den "Aufbau des Sozialismus" freigestellt wurden, aber zugleich die Lasten der Haushaltsführung tragen mussten, die nicht zuletzt wegen der Versorgungsengpässe eine besondere Herausforderung darstellte.
Angesichts des grundsätzlichen Desiderats einer Gesellschafts- und damit auch Frauen- und Familiengeschichte der Litauischen Sowjetrepublik für ein internationales Publikum fasst das knapp gehaltene Buch Dalia Leinartes konzise und prägnant die grundlegenden Entwicklungen des Verhältnisses von Familien und Staat aus genderhistorischer, rechts- und gesellschaftsgeschichtlicher Perspektive zusammen. Der Autorin, nicht nur ausgezeichnete Kennerin der litauischen Frauengeschichte, sondern auch Mitglied des UN-Komitees zur Beseitigung von Frauendiskriminierung, ist hierbei ein Anliegen, die Diskrepanz zwischen der ideologisch motivierten Feststellung, die Gleichstellung der Frau erreicht zu haben, und der harten Lebensbedingungen von Frauen in der Litauischen Sowjetrepublik herauszustellen.
Hierzu hat Leinarte ihre Studie in vier Kapitel untergliedert. Zunächst analysiert sie vor allem auf Basis von rechtlichen Quellen die sowjetische Familienpolitik und damit die Implementierung der Frauenpolitik nach der Annexion mittels der Frauenabteilung der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Parteistrukturen insgesamt. Grundlage war die gesamtsowjetische Frauen- und Familienpolitik, etwa in Form des Ehe- und Familiengesetzes von 1936, das 1969 revidiert wurde. Hierbei zeigt die Verfasserin deutlich auf, dass die unbezahlte Frauenarbeit in Verbindung mit dem Frauenaktivismus genutzt wurde, um die durch den Krieg darniederliegende Wirtschaft aufzubauen und das Sowjetregime zu stärken. Von 1944 an seien Mutterschutzregelungen in Verbindung mit der Auszeichnung von Müttern mit zahlreichen Kindern eingeführt worden. Jedoch erst Mitte der 1950 Jahre wurde damit begonnen, mittels statistischer Daten die Lage der Frauen zu hinterfragen. Ziel sei es gewesen zu betonen, dass Frauen nun auch in zahlreichen Männerdomänen arbeiteten, etwa als Ärztinnen, in Handel und Bildung.
Das zweite Hauptkapitel widmet sich dem Thema Ehe und Scheidung in der Litauischen SSR, wofür die Verfasserin nach eigenem Bekunden sämtliche Scheidungsfälle bis 1989 statistisch ausgewertet hat und zeigen kann, dass deren Anzahl sich von 1947 bis 1957 mehr als verdoppelte - von 750 auf 1746. Sie problematisiert in diesem Zusammenhang, wie die Geschiedenen mit der Teilung des geringen Wohnraumes umgehen mussten. Leinarte zeigt in diesem Kapitel, wie Parteiapparat und Gesetzgebung versuchten, die Lage von Frauen und Familien zu konsolidieren. Daher sei die Sowjetrepublik auch gegen den kirchlichen Einfluss vorgegangen, indem nur staatlich registrierte Ehen ohne kirchliche Trauung als glücklich beschrieben wurden, weil kirchlich geschlossene Ehen Verantwortungslosigkeit gegenüber dem persönlichen Glück und Schicksal zeigen würden. "Romantische Liebe" wurde letztlich nur anhand ideologischer Gesichtspunkte definiert, wodurch, so Leinartes Fazit, die Entwicklung der Zwischenkriegszeit mit einem liberaleren Verständnis von Ehe und Sexualität in der litauischen Gesellschaft rückgängig gemacht worden sei. Letztlich, so die Verfasserin, sei sowjetische Liebe nur unter dem Gesichtspunkt menschlicher Reproduktion betrachtet worden.
Anschließend erläutert Leinarte das Verhältnis von Eltern zu ihren Kindern. Spannend ist dabei ihre Darstellung, wie Frauen im Spannungsfeld traditioneller Erziehungsformen aus dem 19. Jahrhundert, informeller Strategien angesichts der harten Lebenswirklichkeit und einer unbedeutenden Rolle der Väter in der Kindererziehung ihren Alltag meistern mussten, da entgegen den sozialpolitischen Postulaten die Kinderbetreuung unzureichend und, so Leinarte, im Vergleich mit anderen Sowjetrepubliken bis in die 1980er Jahre hinein erheblich schwächer entwickelt gewesen sei. Daher, so der Befund der Verfasserin, habe sich auf Grund des schwierigen Alltagslebens eine gewisse Distanz ergeben zwischen Eltern und Kindern, die sich unter den gegebenen staatssozialistischen Bedingungen aber kaum individuell hätten entwickeln können, so ihr kritisches Fazit des Kapitels.
Das abschließende Hauptkapitel untersucht den Haushalt als Lebensraum von Familien unter den Bedingungen der Versorgungsknappheit. Das Alltagsleben habe durch informelle Strategien verbessert werden können, etwa durch briefliche Eingaben an Parteimitglieder. Ein gravierendes Problem war der Wohnungsmangel, dem durch Plattenbausiedlungen in Vilnius und anderen Städten begegnet werden sollte, wo auch Einkaufszentren, Kindergärten und Schulen entstanden, um den Alltag zu erleichtern. Dennoch habe der Wohnungsmangel die Gesellschaft geprägt, so hätten etwa 1970 noch 70 Prozent der frisch Vermählten bei den Eltern gewohnt. Hätten sie eine Wohnung gefunden, so wären, meint Leinarte, diese den ästhetischen Vorschlägen einschlägiger Zeitschriften folgend eingerichtet worden. Damit umreißt die Verfasserin die wesentlichsten Aspekte des Familienlebens sowjetlitauischer Prägung. Jedoch verzichtet sie auf eine tiefergehende Erörterung damit zusammenhängender Problemfelder, beispielsweise den Umgang mit reproduktiven Rechten von Frauen wie Abtreibung und Verhütung. Auch fehlt eine analysierende Gegenüberstellung von tatsächlich in den Familien gelebten Werten mit den von offizieller Seite propagierten Grundsätzen. Hierdurch hätten beispielsweise weitere Rückschlüsse auf grundlegende gesellschaftliche Wertvorstellungen getroffen werden können.
Aufbauend auf den umfangreich erfassten Daten, flechtet Leinarte immer wieder Fallbeispiele in ihre Analyse ein, um zu zeigen, was für problematische Einflüsse das sowjetische Gesellschaftssystem auf die Entwicklung von Familien und Ehe in Litauen trotz aller ideologischen Postulate gehabt habe. Indem Leinarte ihre Thesen entsprechend illustriert, wird deutlich, wie wichtig eine Verbindung von Mikro- und Makroebene ist, um gesellschaftliche Entwicklungen in größtmöglicher Genauigkeit nachvollziehen zu können. Hervorzuheben ist, dass die Verfasserin auf litauische Besonderheiten und Ausprägungen eingeht und damit einen wichtigen Beitrag sowohl zum Verständnis von Frauen- und Familiengeschichte als auch zur litauischen Gesellschaftsgeschichte insgesamt geleistet hat. Hierdurch werden Besonderheiten der sowjetlitauischen Geschichte im Vergleich zu einer gesamtsowjetischen Perspektive präzise, wenngleich bisweilen in zu stark deskriptiver Weise, umrissen. Die manchmal verengten und daher wenig aussagekräftigen Vergleichsperspektiven regen immerhin zu weiteren, vertiefenden Forschungen an, etwa für die zentralasiatischen Republiken. Leinartes Buch zeigt somit, dass die Fokussierung auf die ehemaligen westlichen, vor allem baltischen Sowjetrepubliken mit ungehindertem Archivzugang dabei helfen kann, die gegenwärtige Unzugänglichkeit von Archiven in Russland und Belarus zu überbrücken.
Heidi Hein-Kircher