Sascha Schmidt / Yvonne Weyrauch (Hgg.): Rechter Terror in Hessen. Geschichte, Akteure, Orte, Frankfurt/M.: Wochenschau-Verlag 2023, 399 S., ISBN 978-3-7344-1562-3, EUR 29,90
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Aus heutiger Perspektive kommt einem vieles von dem, was Sascha Schmidt und Yvonne Weyrauch zusammengetragen haben, allzu vertraut vor: Rechtsextreme haben während der 1980er Jahre Netzwerke aufgebaut und Terroranschläge geplant oder verübt. Ihre Anschlagsziele waren Geflüchtete oder Menschen mit Migrationsgeschichte, Jüdinnen, Juden und jüdische Einrichtungen, Gedenkorte an die Zeit des Nationalsozialismus oder - wie schon 1979 - Sendemasten, um die Ausstrahlung der "Fernsehserie Holocaust - Die Geschichte der Familie Weiss" zu verhindern. Sie verübten auch Anschläge, die, wie vermutlich das Attentat auf das Oktoberfest in München 1980, in der Bevölkerung Angst schüren sollten, um einen gewaltsamen Umsturz vorzubereiten. Als ein "Hotspot rechten Terrors" (10), schreiben Schmidt und Weyrauch, kann das Bundesland Hessen gelten.
Die Gewalt hätte 1980 eigentlich unübersehbar sein müssen. Eine der Terrorzellen, die in diesem Jahr gezielt Menschen töteten, waren die Deutschen Aktionsgruppen (DAG). Ins Leben gerufen hatte die DAG der in Hessen lebende, einschlägig vorbestrafte und zur Fahndung ausgeschriebene Neonazi Manfred Roeder. Im Sommer 1980 warfen Mitglieder der DAG Brandsätze auf ein Wohnheim in Hamburg, in dem Menschen aus Vietnam lebten. Der Anschlag forderte zwei Todesopfer. Im selben Jahr tötete ein Rechtsextremer, der bei der "Wehrsportgruppe Hoffmann" aktiv gewesen war, bei dem Anschlag auf das Münchner Oktoberfest außer sich selbst ein Dutzend Menschen und verletzte über 200 weitere. Im Dezember 1980 ermordete Uwe Behrendt, die rechte Hand des Kopfs der "Wehrsportgruppe Hoffmann", in Erlangen Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke. An Heiligabend 1980 versuchte der Neonazi Frank Schubert, Waffen aus der Schweiz zu schmuggeln. Als er aufgehalten wurde, tötete er zwei Schweizer Grenzbeamte und verletzte einige weitere, bevor er sich selbst richtete. Erst 2021 wurden Hinweise öffentlich bekannt, wonach Schubert "einer rechten Terrorzelle" angehört hatte (73).
Zur gleichen Zeit sprachen extreme Rechte zwar noch kaum von "Remigration". Aber sie nannten ihre Kleinstparteien zum Beispiel Aktion Ausländerrückführung. Einige von ihnen gingen zugleich auf Distanz zum "Hitlerismus" - nicht, weil sie den Nationalsozialismus abgelehnt hätten, sondern weil sie andere Akzente setzen und, wie heute die Identitäre Bewegung, ihrer Weltanschauung einen neuen Anstrich geben wollten. So betonten Rechtsterroristen den "Kampf gegen Amerikanismus" in der Bundesrepublik Deutschland, wie es 1982 in dem Manifest "Abschied vom Hitlerismus" hieß, weswegen sich ihre Anschläge auch gegen US-amerikanische GIs und U.S.-Army-Einrichtungen richteten, und erklärten, es sei notwendig, einen "antiimperialistischen Befreiungskampf zu führen, der unserem Volk das Überleben sichert" (77).
Aus heutiger Perspektive ist vertraut, wie die seinerzeit bekannt gewordenen Gewalttaten eingeordnet wurden. Sie wurden "Einzeltätern" zugeschrieben. Dabei gab es an dieser Auffassung bereits Anfang der 1980er Jahre Kritik. Der SPIEGEL schrieb 1981 in einem Text über den mittlerweile toten Neonazi Frank Schubert: "Wo Staatsanwälte und Richter noch immer von 'irregeleiteten Einzeltätern' sprechen, haben sich in Wahrheit militante Zirkel gebildet, die nach Aufbau und Ausrüstung linken terroristischen Vereinigungen vergleichbar sind". [1]
Man könnte geneigt sein, den Fokus auf Hessen mit Gewalttaten und Vorfällen aus der jüngeren Vergangenheit zu erklären: dem rassistischen Amoklauf in Hanau 2020, dem Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke 2019 oder der bis heute unaufgeklärten Rolle, die die Frankfurter Polizei 2018 bei den Drohschreiben des sogenannten NSU 2.0 gespielt hat. Doch der Fokus auf Hessen hat weiter zurückreichende Gründe. Nach dem Verbot der "Wehrsportgruppe Hoffmann" und anderen neonazistischen Gruppierungen und Parteien nahmen die von den Ermittlungsbehörden erfassten rechtsextremen Vorfälle bundesweit ab 1983 ab, schreiben Schmidt und Weyrauch. Die "offiziell registrierten Taten in Hessen 1983" markieren hingegen "mit 211 einen Höchstwert" (84).
Die Geschichte von Stephan Ernst, dem Mörder Walter Lübckes, zeigt beispielhaft, was sich in Hessen entwickelt hat: Als 15-Jähriger beging er 1989 sein erstes Hassverbrechen, 1992 wurde er für einen rassistischen Mordversuch zu sechs Jahren Gefängnis verurteilt. 2003 griff er in Neumünster, Schleswig-Holstein, bei einem Aufmarsch gegen die Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht eine Gegendemonstrantin an und wurde dafür verurteilt. 2007 attackierte er mit anderen Neonazis in Kassel eine Veranstaltung des Mobilen Beratungsteams gegen Rassismus und Rechtsextremismus. "Bevor Ernst 2019 zum Mörder wurde, war er bereits zwölfmal verurteilt worden" (263). Nach Ernsts eigener Aussage reifte der Entschluss, den Mord an Lübcke zu begehen, beim sogenannten Trauermarsch von AfD und rechtsextremer Szene in Chemnitz 2018. Im Jahr 2009 war der Leiter des hessischen Verfassungsschutzes noch zu der Einschätzung gekommen, Ernst sei "brandgefährlich". Im Jahr darauf stellte der Verfassungsschutz die Beobachtung ein.
Die Autorin und der Autor betonen, dass die Dunkelziffer rechtsextremer Straftaten wahrscheinlich höher ausfällt. Nach der Selbstenttarnung des NSU stellte sich heraus, dass der rechtsextreme John Ausonius 1992 in Frankfurt am Main die Shoah-Überlebende Blanka Zmigrod ermordet hatte. In Schweden war er zu dieser Zeit als "Laserman" berüchtigt, nachdem er mit einem Lasergewehr auf elf Menschen geschossen hatte, die er "für Ausländer hielt". Bereits in den 1980er Jahren hatte Ausonius rassistisch motivierte Gewalttaten begangen. Unklar ist bis heute, ob er "Zmigrods KZ-Häftlingstätowierung auf ihren Unterarm gesehen" hatte (136 f.). Die möglichen Hintergründe, warum 2001 Dorit Botts, Inhaberin eines Military-Shops in Fulda, ermordet wurde, wurden erst drei Jahre nach der Tat aufgeklärt. Antiamerikanismus könnte als Motiv passen. Der Täter, der sich in der Nazi-Black-Metal-Szene bewegte, gab außerdem vor Gericht an, es sei ein "Aufnahmeritual" in eine Thüringer Neonazi-Organisation gewesen (164 f.).
Hessen ist noch aus einem anderen Grund für die Geschichte des Rechtsterrorismus bedeutsam. Denn die Morde in Hanau bedeuteten auch in einer anderen Hinsicht eine Zäsur und eine deutliche Diskursverschiebung. Während es bei der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds üblich war, die Opfer zu verdächtigen, und bei den rassistischen Aufmärschen in Chemnitz 2018 Bundesinnenminister Horst Seehofer noch dabei blieb, die Migration als die "Mutter aller Probleme" zu bezeichnen [2], gab es in der Berichterstattung über Hanau "einen turn, weg von der rassistischen Täter- hin zur Opferperspektive" (281).
Mit ihrem Buch legen Sascha Schmidt und Yvonne Weyrauch einen wichtigen Überblick über die Geschichte des rechten Terrors in Hessen vor. Die Schilderungen der Ereignisse sind ebenso gut lesbar und überzeugend dargestellt wie die Bezüge zu der nicht offen militanten rechtsextremen Szene um NPD, Republikaner, AfD oder Identitäre Bewegung.
Auch sprachlich können sich andere an der hier besprochenen Studie ein Beispiel nehmen. Es ist mit Sympathie für die Opfer rechter Gewalt geschrieben und macht deutlich, was eine Bedrohung bedeutet, die es nicht in die Nachrichten schafft. Obwohl die Autorin und der Autor stets die ganze (west-)deutsche Neonazi-Szene im Blick haben, bleibt trotzdem offen, was sich außerhalb Hessens mit ihrer Studie in der politischen Bildung oder im Geschichts- oder Politikunterricht anfangen lässt. Denn eigentlich bräuchte es für jedes Bundesland eine entsprechende Überblicksstudie über die Geschichte rechten Terrors - und der oft ideologisch aufgeladenen politischen Debatten, die diese Gewalt stets aufs Neue befeuern.
Anmerkungen:
[1] Rechtsradikale. Lebende Zeitbombe, in: DER SPIEGEL 3, 11. Januar 1981. www.spiegel.de/politik/lebende-zeitbombe-a-9d4ad5e3-0002-0001-0000-000014317165 [12.5.2024].
[2] Horst Seehofer nach Chemnitz. "Mutter aller Probleme ist die Migration", in: Die Welt, 5. September 2018. www.welt.de/politik/deutschland/article181434586/Seehofer-nach-Chemnitz-Mutter-aller-Probleme-ist-die-Migration.html [12.5.2024].
Olaf Kistenmacher