Rezension über:

Francis Rambert: Métro! Le Grand Paris en mouvement, Paris: Réunion des Musées Nationaux 2023, 298 S., ISBN 978-2-7118-8001-0, EUR 39,00
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Rezension von:
Salvatore Pisani
Institut für Kunstgeschichte, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Hubertus Kohle
Empfohlene Zitierweise:
Salvatore Pisani: Rezension von: Francis Rambert: Métro! Le Grand Paris en mouvement, Paris: Réunion des Musées Nationaux 2023, in: sehepunkte 24 (2024), Nr. 7/8 [15.07.2024], URL: https://www.sehepunkte.de
/2024/07/39016.html


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Francis Rambert: Métro!

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Bei der vorliegenden Publikation handelt es sich um den Katalog der gleichnamigen Ausstellung, die zwischen dem 8.11.2023 und dem 2.6.2024 in der Cité de l'architecture et du patrimoine in Paris zu sehen war. Vorgestellt wurden die Planungen und der Status quo des unter Nicolas Sarkozy 2008 initiierten Präsidial- und Hightech-Projekts namens Grand Paris Express (GPE). Die geplante 200 km lange Metrolinie 15 soll ab 2030 ringförmig die Pariser Banlieues vernetzen und mit dem Stadtzentrum verbinden. Das Projekt reklamiert die aktuell fünftgrößte Baustelle der Welt zu sein und stellt sich nicht zuletzt statistisch als Ausnahmeereignis vor: 3 Millionen erwartete Passagiere pro Tag, 36 Milliarden Euro Investitionsvolumen, 50 Millionen Tonnen Aushub, 68 neue Großbahnhöfe, die nach Plänen bekannter Architektinnen und Architekten ausgeführt werden. Zu der Runde gehören Jean-Marie Duthilleul, Dietmar Feichtinger, Kengo Kuma, Dominique Perrault, Elisabeth de Portzamparc, Benedetta Tagliabue, um nur eine Auswahl zu nennen. Die Gebäudeausstattungen, als "œuvre tandem" konzipiert, entstehen in Zusammenarbeit mit namhaften Künstlerinnen und Künstlern, u.a. mit Ulla von Brandenburg, Sophie Calle, Daniel Buren, JR, Michelangelo Pistoletto.

Der Grand Paris Express bedient die westliche Erzählung der immer schnelleren Stadt. Deren Schlüsselbegriffe heißen Beschleunigung, Massenmobilität und Wirtschaftswachstum. Das visionär angelegte Projekt zielt zum einen auf die Verquickung und Gestaltung der fraktalen Pariser Banlieues, was durch eine dezentrale Raumerschließung, die Integration von Randzonen sowie die Beseitigung sozialer Brennpunkte, der sogenannten "violence urbaine", realisiert werden soll. In Aussicht gestellt wird zumal ein Suburbanisierungsschub, ausgehend von den Bahnhöfen als neuen urbanen Polen. Zum anderen und unmittelbarer ist die Intention, die Metro als zentrales Medium der kollektiven Fortbewegung neu zu dimensionieren und zu kalibrieren. Die sich um die Hälfte verkürzenden Reisezeiten und die neuen, auf Konsum ausgerichteten Bahnhöfe sollen der Metrofreundlichkeit zuarbeiten, was sich wiederum mit der Umweltdebatte zu einem Zirkel schließen soll. Koevolutiv ist dieses Mobilitätskonzept mit der Autofeindlichkeit verbunden, die sich die Mairie de Paris auf die Fahne geschrieben hat. Denn der Umbau von Frankreichs Kapitale zur Fahrradstadt ist genauso beschlossene Sache wie die Errichtung einer Bannmeile für den motorisierten Durchgangsverkehr ab Herbst 2024, die rechts der Seine um das Gebiet zwischen Bastille und Concorde gezogen wird. Während Paris seinen Bewohnern und Besuchern ein grundlegend verändertes Mobilitätsverhalten abverlangt, spannt sich mit dem Grand Paris Express die Ambiguität auf, dass die heute verlegten Gleise nicht notwendigerweise den zukünftigen Entwicklungswegen entsprechen müssen. Welche immensen Pfadabhängigkeiten das Projekt setzt, gehört indes nicht zum Repertoire seiner Visionen.

Der Architekt Perrault, auch Kurator und zentraler Stichwortgeber der Ausstellung, versteht den Grand Paris Express ganz zukunftsgewiss als Labor der Mobilitätskultur(en). In seinem Bahnhof Villejuif soll, so Perrault, die Kreuzung von Infrastruktur und Architektur das sonst gering geschätzte Metrofahren zum Erlebnis werden lassen. Er sieht vor, die Rolltreppenkonstruktionen in einen monumentalen, glasgedeckten Trichter einzulassen, der von oben großzügig mit Tageslicht erhellt wird. Eine erläuternde Zeichnung stellt seine Untergrundarchitektur in Analogie mit dem römischen Pantheon (20), womit die Infrastruktur gleichsam aus dem Niemandsland des Technischen erhoben und mit dem Nimbus der Erhabenheit versehen wird. Das bekannte Diktum des Technikphilosophen Paul Virilio, wonach die technisch beschleunigte Moderne die Menschen umso mehr zum Sitzen nötige, je mobiler sie sind, bricht sich in Villejuif wie in den meisten anderen geplanten Bahnhofsbauten in dem Umstand, dass die bis zu 50 m tief liegenden U-Bahnquais nebst weitläufigen Hallen und Vorplätzen lange Wegstrecken zu Fuß zumuten. Trotz oder gerade wegen der zahlreichen Rolltreppen und Aufzüge, Kengo Kumas vor wenigen Wochen inaugurierter Umsteigebahnhof Saint-Denis Pleyel zählt stolze 56 Rolltreppen und 18 Aufzüge, bleibt Zu-Fuß-Gehen ein unverzichtbares Bewegungsmittel. Gehen kanalisiert sich in diesen immensen Transiträumen allerdings unvermeidlich zu einem gleichförmigen Strömen. Die neuen Mobilitätsarchitekturen des Grand Paris unterstellen sich insofern den Geboten von Technik und Kapitalismus, als sie das Humane vornehmlich als (Bio)Masse behandeln, die mechanisch gebündelt, verteilt und an den Konsumzonen entlang gelenkt werden soll. Perrault versteht sein romantisches Architekturkonzept in Unvereinbarkeit mit diesem Apriori und erklärt es voller Optimismus zum Antidot der Technikdominanz. Es sei dies ohne Zynismus gesagt: Es gehört zum Rätsel der Architekturwerdung, ob das Gedachte, hier das Paradoxe, in der Wirklichkeit nicht doch am Ende aufgeht.

Die Schaubilder der Bahnhofsprojekte zeigen die hauptsächlich als Glasarchitektur konzipierten Bauten in einer simulierten Frequentation mit Müttern und Kindern, Geschäftsleuten und flanierenden Paaren (254-279). Sie halten sich damit nicht weiter mit der sozialen Spezifik der jeweiligen Banlieues auf, in denen die Bauten zu stehen kommen. Sicherlich sind solche Bilder im Hinblick auf eine zu erwartende Realität nicht wörtlich zu lesen. Und doch legen sie eine architekturdeterministische Sicht bloß, wonach Architektur sich als die maßgebliche Bedingung von Vergesellschaftung versteht oder wie es noch die klassische Moderne kompromisslos ausdrückte "Geformtes formt". [1] Die Architektenschaft dürfte es dennoch am ehesten selbst wissen - und die interdisziplinäre Forschung bestätigt ihr Wissen nur -, dass die Gestaltungsprozesse gebauter Räume hochkomplex sind - nicht zuletzt wegen der Kontingenz, die die Nutzer stets ins Spiel bringen.

Die Ausstellung setzte sich in Roundtables, Vorträgen und einer großen Abschlussveranstaltung fort, die sich ganz im Zeichen der Debatte und einer pathetischen Schlussrede von Sarkozy vollzog. Der Katalog selbst schließt an diese performative Form der Wissensvermittlung und -aufbereitung an, indem er neben allgemeinen Erörterungen zu mobilitätspolitischen Problemen auch Statements und Interviews mit Hintergrundfiguren des Planungsgeschehens, aber auch kritischen Stimmen wiedergibt, die in einer eigenen Ausstellungssektion zu hören und zu sehen waren. Kein Zweifel: Der Ertrag von Ausstellung und Katalog ist anregend, informativ und hochrelevant. Einmal mehr hat sich die kaum zu überschätzende Bedeutung der Cité de l'architecture et du patrimoine als Informations- und Kommunikationsmedium der Stadt(bau)politik und nun zumal der anstehenden Mobilitätswende präsentiert. Neben der Mairie de Paris mit ihrer eigenen Ausstellungsplattform, dem Pavillon de l'Arsenal, trägt die Cité immer wieder Sorge dafür, dass die Ressource Citoyen nicht versiegt, von dessen Kompetenz und Bereitschaft, sich an öffentlichen Belangen zu beteiligen, bekanntlich die Aufrechterhaltung unseres politischen Systems abhängt.


Anmerkung:

[1] Fritz Wichert: Die neue Baukunst als Erzieher, in: Das neue Frankfurt. Monatsschrift für die Probleme moderner Gestaltung, 1928, Bd. 2, 233-235, Zitat: 233.

Salvatore Pisani