Aled Davies / Ben Jackson / Florence Sutcliffe-Braithwaite (eds.): The Neoliberal Age? Britain since the 1970s, London: UCL Press 2021, 377 S., 3 s/w-Abb., ISBN 978-1-78735-686-3, GBP 45,00
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Kiran Klaus Patel / Hans Christian Röhl: Transformation durch Recht. Geschichte und Jurisprudenz Europäischer Integration 1985-1992. Mit einem Kommentar von Andreas Wirsching, Tübingen: Mohr Siebeck 2020
Clemens Krauss: Geldpolitik im Umbruch. Die Zentralbanken Frankreichs und der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er Jahren, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2021
Eine neoliberale Ära - so lautet die verbreitete Charakterisierung der britischen Geschichte seit den 1970er Jahren. Demnach habe sich in Großbritannien eine rechte Ideologie von freien Märkten und Wohlfahrtsstaat-Abbau durchgesetzt und erst mit der Finanzkrise 2008 an Dominanz verloren. Die Kritik an dieser Standarderzählung ist der Ausgangspunkt des hier besprochenen Sammelbandes. In 15 Beiträgen behandeln ausgewiesene Expertinnen und Experten die Bereiche Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik, Arbeit und Familie sowie Politik und Wirtschaft.
Wie hilfreich ist die Analysekategorie Neoliberalismus zum Verständnis der britischen Zeitgeschichte? Welche weiteren Faktoren müssen einbezogen werden? Diese Fragen stehen im Zentrum der instruktiven Einleitung, die den vielschichtigen und umstrittenen Begriff Neoliberalismus sorgfältig in die britische Historiografie einordnet. Statt einer einheitlichen Definition werden drei Ansätze vorgestellt, mit denen verschiedene Wissenschaftsdisziplinen das Konzept aufgegriffen haben: als politische Ideologie, Erscheinungsform des Kapitalismus und Regierungsform. Das Vorgehen spiegelt die diversen Definitionen und Bewertungen über den Nutzen des Konzepts in den einzelnen Beiträgen. Gemein ist diesen, dass sie die Verkürzung der jüngeren britischen Geschichte auf das Schlagwort Neoliberalismus ablehnen. Zur Erklärung der tiefgreifenden Umbrüche seit 1970, so die These, seien weitere politische, soziale und materielle Faktoren zu berücksichtigen.
David Edgertons und Ben Jacksons methodische Überlegungen verdeutlichen diese Auffassungsunterschiede. Edgerton lehnt den Begriff Neoliberalismus wegen der Vorgeschichte als politischer Kampfbegriff und definitorischer Unschärfe ab. Vor allem aber impliziere er einen klaren Bruch mit einer Phase von vermeintlich von Keynesianismus und Wohlfahrtsstaat-Ausbau geprägten social democracy - Konzepten, die selbst die komplexe Gemengelage vor 1979 nicht adäquat erfassen. Grundsätzlich kritisiert er die vereinfachende Identifizierung der britischen Geschichte mit solchen Deskriptoren. Auch Jackson fordert eine differenziertere Auseinandersetzung mit solchen Konzepten, sieht aber einen Mehrwert in der stärkeren Berücksichtigung neoliberaler Ideen. Diese dürften nicht in einen Gegensatz zu anderen politischen, materiellen und ökonomischen Faktoren gestellt werden, vielmehr gelte es, das Zusammenwirken genauer zu analysieren.
Unterschiedliche Gewichtungen zeigen sich auch im ersten Teil zu Wohlfahrtsstaat und Sozialpolitik. Peter Sloman interpretiert die Ausdehnung staatlicher Transferzahlungen in Margaret Thatchers Regierungszeit (1979-1990) nicht als Scheitern der Marktreformen, sondern als Instrument zu deren Durchsetzung (redistributive market liberalism). Jim Tomlinson hingegen sieht sie als Symptom der engen Grenzen, die der langanhaltende Deindustrialisierungsprozess den neoliberalen Reformen setzte. Bernhard Rieger verdeutlicht, dass New Labour nach 1997 in der Beschäftigungspolitik ebenfalls marktorientierten Logiken folgte, aber in der moralischen Bewertung von Arbeitslosigkeit auf ältere Parteitraditionen zurückgriff und stärker auf Fördermaßnahmen baute.
Längere Entwicklungslinien legt auch Helen McCarthy im zweiten Teil zur Arbeit und Familie dar. Demnach reichte die Zuweisung persönlicher Verantwortlichkeit von erwerbstätigen Frauen für die Kinderfürsorge lange vor die neoliberalen Reformen der 1970er Jahre zurück. Jim Phillips sieht das Hauptziel von Thatchers Gewerkschaftsreformen nicht in einer Marktliberalisierung, sondern in einer Verschiebung der Machtverhältnisse zugunsten der Arbeitgeber. Anders als Tomlinson kommt er zu dem Ergebnis, dass dieses Ziel durch die Deindustrialisierung begünstigt wurde. Wie McCarthy weist er auf die Wirkung von Widerständen gegen neoliberale Reformen hin. Im Unterschied hierzu finden sich bei Sarah Mass Triebkräfte für neoliberale Ideen. Aus einer konsumhistorischen Perspektive argumentiert sie, dass Flexibilisierungen im britischen Einzelhandel nicht auf staatliche Reformen von oben, sondern auf die städtische Nachfrage nach Konsumgütern und neuen Vertriebsformen zurückzuführen seien.
Camilla Schofield, Florence Sutcliffe-Braithwaite und Rob Waters widmen sich im dritten Teil zur Politik der Verbindung von antirassistischem Aktivismus und Unternehmertum. Dieser Zusammenhang sei nicht erst ab 1970 durch neoliberale Ideen und staatliche Förderanreize entstanden, sondern reiche bis in die 1970er Jahre zurück. Mark Wickham-Jones relativiert die vermeintliche neoliberale Wende der Labour Party ab 1980 und verweist auf die frühere Akzeptanz von Marktmechanismen. Die einseitige Beeinflussung der Conservative Party durch neoliberale Ideen hinterfragt James Freeman und fordert wie Jackson eine präzisere Ausarbeitung der Wechselwirkungen mit konservativen Traditionen.
Der vierte Teil zur Politischen Ökonomie revidiert ebenfalls Erzählungen eines klaren, neoliberalen Bruchs: Neil Rollings weist anhand archivalischer Quellen den Fortbestand konstruktiver Arbeitsbeziehungen zwischen Thatchers Regierung und dem Industrieverband Confederation of British Industry (CBI) nach. Damit zeigt er, wie die Durchsetzung neoliberaler Ideen von oben durch praktische politische Erfordernisse begrenzt wurde: Trotz Misstrauen gegenüber korporatistischen Ansätzen sah sich Thatcher zur Förderung der Lohnzurückhaltung auf die CBI-Kooperation angewiesen. Aled Davies führt die Ursprünge der Finanzialisierung der britischen Wirtschaft in die 1960er Jahre zurück, als Ergebnis finanzieller Zwänge durch die Deindustrialisierung. Guy Ortolano argumentiert, dass schon vor 1979 in einer property-owning social democracy das Ziel von mehr Immobilieneigentum bestand, das die Akteurinnen und Akteure unter - widerwilliger - Anpassung an neoliberale Logiken weiterverfolgten und damit unfreiwillig die neoliberale Agenda förderten. Schließlich diskutiert Tehila Sasson im Schlusskapitel nochmals die Thesen der Beiträge und benennt gender und race als vielversprechendste Ansatzpunkte für weitere historische Neoliberalismus-Forschungen.
Im Fokus der Beiträge stehen trotz aller Verweise auf transnationale Verflechtungen britische Entwicklungen. Ein Aufsatz zum Verhältnis des britischen Neoliberalismus und der europäischen Integration wäre durchaus wünschenswert gewesen, immerhin kristallisierten sich in den EG/EU-Mitgliedschaftsdebatten unterschiedliche Deutungen um deren vermeintlich neoliberalen oder sozialistischen Charakter. Nichtsdestotrotz bietet der Band zahlreiche Denkanstöße, die über Debatten um Definition und Sinnhaftigkeit der Kategorie Neoliberalismus hinausweisen. Schon der einleitende Literaturüberblick und die luzide historiografische Einordnung sind sowohl für Studierende als auch Forschende enorm hilfreich. Zur Lektüre der teils sehr spezialisierten Beiträge sind allerdings Vorkenntnisse über die britische Geschichte förderlich. Die Aufsätze belegen eindrucksvoll den Mehrwert, den eine historische Herangehensweise im Dialog mit anderen Disziplinen bietet, und zeigen zugleich die Vielfalt der sich überlappenden historischen Entwicklungen seit 1970 auf. Damit bestätigen sie das Narrativ der 1970er Jahre als eines Jahrzehnts des Umbruchs und bekräftigen zudem die These, dass die Reduktion der jüngeren Geschichte auf ein Schlagwort zu kurz greift. Sie unterstreichen auf diese Weise Ansätze in der jüngeren Historiografie, die sich darum bemühen, von der übergroßen Fixierung auf Margaret Thatchers Amtszeit abzukehren.
Der Verzicht auf einheitliche Definitionen und Kriterien ermöglicht diese methodische Vielfalt, erschwert aber auch eine Synthese. Etwa werden steigende Transferleistungen einerseits als Scheitern (Tomlinson), andererseits als Bekräftigung bei der Durchsetzung neoliberaler Modelle gedeutet (Sloman). Solche Gegensätze werden in Einleitung und Schluss thematisiert, aber nicht aufgelöst. Tehila Sassons abschließende Forderung, die Wirkung der "neoliberal rationality" (336) exakter zu vermessen, bleibt so auch nach der Lektüre weitgehend offen. Andererseits ergeben sich gerade aus dieser Herangehensweise Impulse für weiterführende Reflexionen. Insofern hat der Fokus auf den Neoliberalismus seine Berechtigung, wird voraussichtlich aber Gegenstand weiterer Diskussionen sein.
Trotz der methodischen Vielfalt der Beiträge verleihen die substanzielle Einleitung, die Schlussdiskussion und zahlreiche Querverweise dem Sammelband Kohärenz. Die inhaltliche Zugänglichkeit wird weiterhin durch ein Schlagwort- und Namensregister sowie eine Auswahlbibliografie erhöht, überdies ermöglicht der Open-Access-Zugang einen breiten Zugriff. So ist zu erwarten, dass der Band vielfältige Diskussionen anregt und einen Meilenstein in der jüngeren britischen Historiografie bilden wird.
Juliane Clegg