Quinn Slobodian: Globalists. The End of Empire and the Birth of Neoliberalism, Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2018, X + 381 S., 7 s/w-Abb., ISBN 978-0-674-97952-9, USD 35,00
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Der Neoliberalismus hat es nicht leicht: Er dient als Epochenbegriff, Feindbild, konspirative Kraft oder wirtschaftspolitisches Paradigma; er wird mit Deregulierung, Marktradikalismus, sozialer Destabilisierung, globaler Ungleichheit oder Neokonservatismus gleichgesetzt. Solche Zuschreibungen sind nicht per se falsch. Dennoch überrascht, wie selbstverständlich Neoliberalismus in der (deutschsprachigen) Geschichtswissenschaft bisweilen als Phänomen betrachtet wird, das erst in den 1970er Jahren zur politischen Kraft avancierte und häufig als Gegenentwurf zum keynesianischen Wohlfahrstaat der goldenen Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg stilisiert wird - nicht selten mit implizit-bedauerndem Unterton. Durch die nahezu ubiquitäre Verwendung des Begriffs erscheint er inzwischen weitgehend seines Inhalts - und seiner Geschichte - beraubt.
Umso mehr ist zu begrüßen, dass Quinn Slobodian ein überaus lesenswertes ideengeschichtliches Buch vorgelegt hat, das den Neoliberalismus als primär ökonomisches Konzept historisiert. Seine Ursprünge hat der Neoliberalismus nicht als Gegenentwurf zum umverteilenden Nationalstaat keynesianischer Prägung, sondern als Antwort auf die politökonomischen Herausforderungen nach dem Ersten Weltkrieg. Neoliberalismus und Keynesianismus sind, verkürzt ausgedrückt, letztlich zwei Antworten auf dieselbe Frage: Wie sollte eine ökonomische Ordnung in Zeiten globaler Instabilität, sozialer Verwerfungen und brüchiger Gesellschaftsordnungen ausgestaltet werden, um zur Prosperität der Zeit vor 1914 zurückzukehren? Während für Keynes, dem in Slobodians Buch nur eine kleine Nebenrolle beschieden ist, der (demokratische) Nationalstaat eine Antwort darstellte, erblickte der Neoliberalismus in individueller Freiheit und Internationalismus eine mögliche Lösung.
Dennoch verfochten die meisten Neoliberalen keineswegs einen schwachen Staat. Im Kern ist das Gegenteil der Fall, da ein maßgeblicher neoliberaler Gedankengang wirksame Institutionen voraussetzt, d.h. eine effektive Durchsetzung von Rechtsnormen (rule of law). Dabei war vor allem das individuelle Eigentumsrecht die zentrale Orientierungsgröße. Daraus resultieren freilich Konflikte mit und innerhalb von Nationalstaaten, die Steuern und Abgaben erheben, um ihre innere Ordnung zu stabilisieren und politische Vorhaben umzusetzen. Ökonomisch werden in diesem Fall Mittel umverteilt. Strikt ausgelegt, greifen die Staaten damit in individuelle Eigentumsrechte ein, da das Individuum nicht mehr vollen Nutzen aus seinem Eigentum ziehen kann. Aus demselben Grund betrachten Neoliberale Arbeitnehmerorganisationen skeptisch, da diese mit Lohnforderungen politische Ziele verfolgten, die ökonomisch abträglich sein konnten. Entsprechend verliefen die dichotomischen Trennlinien für den Neoliberalismus nicht zwischen In- und Ausland, sondern zwischen privat/individuell und öffentlich/kollektiv.
Slobodian führt, eine Bemerkung des Hayek-Schülers Ernst-Ulrich Petersmann aufgreifend, die "Geneva School" als strukturierendes Element in die wissenschaftliche Debatte ein. Sie steht für ein dezidiert globales Denken ihrer Akteure und spannt einen weiten Bogen von der (jüngeren) österreichischen Schule der Nationalökonomie im Wien des frühen 20. Jahrhunderts bis ins Genf des späten 20. Jahrhunderts. Besonders durch die 1995 dort errichtete Welthandelsorganisation (WTO) sieht Slobodian einen Großteil der Ziele der "Geneva School" verwirklicht: Die Errichtung einer supranationalen Organisation, die Regeln für den Welthandel beschließt und durchsetzt, führte sinngemäß zu jener Ordnung, die mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs, dem Zerfall von Imperien und der endgültigen Aufgabe des Goldstandards 1931 verloren gegangen sei. Die Wiederherstellung einer globalen Weltmarktordnung identifiziert Slobodian als maßgebliches Ziel der "Geneva School". Sie habe gerade nicht an eine anarchische selbstregulierende Kraft des Marktes geglaubt, sondern eine Marktordnung durch wirksame Institutionen verfochten. Daher verwendet Slobodian den nützlichen Begriff des Ordoglobalism.
Seine Protagonisten begriffen die globale Ökonomie und ihre Institutionen nicht als statistisches, sondern als dynamisches System, das aus sich selbst heraus den Bedarf für die Weiterentwicklung von Normen schafft. Über deren Implementation sollten aber nicht zwingend demokratisch legitimierte Parlamente entscheiden, sondern Expertengremien. Nicht nur hieran zeigt sich eine problematische Prämisse des neoliberalen Denkens. Es ist zwar nicht demokratiefeindlich, wohl aber demokratieskeptisch. Weil Demokratien dazu neigen (und dazu legitimiert sind), materielle Ressourcen umzuverteilen, um Wählergruppen zu erschließen oder zu befriedigen, wohne ihnen die Gefahr inne, weltwirtschaftlich dysfunktional zu agieren. Das war der zentrale Erfahrungsraum des Neoliberalismus mitteleuropäischer Prägung: Das Dilemma der politischen Ökonomie der Zwischenkriegszeit war zuvorderst, dass demokratisch legitimierte und aus nationaler Perspektive rationale Politik eine internationale Verständigung in ökonomischer und politischer Hinsicht unmöglich machte, Frontstellungen verhärtete und schließlich in der bis dahin schwersten Krise der Welt(wirtschaft) mündete.
Die Analyse, dass die Weltwirtschaft der Zwischenkriegszeit durch mangelnde internationale Kooperation und nationale Umverteilungspolitik erheblich belastet wurde, ist aus einer liberalen Perspektive nicht zu bestreiten. Die Schlüsse, die die Ordoglobalists daraus zogen, waren daher stringent: Starke globale Institutionen, weniger staatliche Umverteilung, flexiblere Arbeitsmärkte. Problematisch wurden solche Sichtweisen aber durch gelegentlich durchschimmernde Sympathiebekundungen für diktatorische Regime, sofern sie der Durchsetzung von "richtigen", d.h. liberalen, Prinzipien dienten. Milton Friedmans und Friedrich August Hayeks positive Sicht auf das Pinochet-Regime in Chile, Ludwig Mises frühe Unterstellung, der (italienische) Faschismus verfolge die besten Absichten, oder Wilhelm Röpkes mindestens rhetorische Unterstützung der Apartheid in Südafrika offenbaren bestenfalls normative Konsequenz, schlechtestenfalls ein fragwürdiges Wertesystem bzw. politische Naivität. In jedem Fall waren sie Wasser auf die Mühlen der Neoliberalismus-Kritik.
Indem Slobodian sich häufiger mit solchen und ähnlichen Beispielen einer - letztlich entkontextualisierten - anekdotischen Evidenz befleißigt, um seine Argumentation zu entwickeln, öffnet auch er eine Flanke für Kritik: Er hat ein ideen-, aber kein dogmengeschichtliches Buch vorgelegt. Sein Narrativ dominiert die Darstellung so stark, dass für eine detaillierte Durchdringung der ökonomischen Denkstile seiner Akteure kein Platz bleibt, d.h. Slobodian konstruiert vor allem Gemeinsamkeiten und Wurzeln "seiner" Ordoglobalists, die wie ein homogene Gruppe wirken, obwohl sie als Ökonomen eher heterogen waren. Dennoch oder vielleicht gerade deshalb ist das Buch eine kluge, streitbare und anregende Studie, die den ökonomischen Kern des Neoliberalismus ernster nimmt als die meisten geschichtswissenschaftlichen Darstellungen.
Boris Gehlen