Christian Schmittwilken: Zentralen des Terrors. Die Dienststellen der Kommandeure der Sicherheitspolizei und des SD im Reichskommissariat Ukraine (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte; Bd. 145), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2024, IX + 304 S., 6 s/w-Abb., ISBN 978-3-11-134326-6, EUR 59,95
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Die vorliegende Studie hält ein, was sie verspricht. Christian Schmittwilken, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Stiftung Topographie des Terrors in Berlin, formuliert das Desiderat seiner unlängst publizierten Dissertation in einem prägnanten Satz: "Es geht in dieser Studie darum, die Praxis der Besatzung und des Massenmords von Sicherheitspolizei und SD zu untersuchen." (12). Diese Dimensionen des Vernichtungskrieges in der besetzten Sowjetunion dokumentiert Schmittwilken am Beispiel des Reichskommissariats Ukraine, zwischen 1941 und 1943 ziviles Verwaltungsgebietes des NS-Staates, in seinen östlichen Ausläufern geographisch in etwa dem Staatsgebiet der Ukraine vor dem russischen Angriffskrieg vom Februar 2022 entsprechend.
Vorweggesagt, es handelt sich um eine in ihrer empirischen Dichte und Anzahl neuer archivarischer Funde aus ukrainischen Staatsarchiven höchst eindrucksvolle Forschungsleistung im Hinblick auf die Praktiken der Täter und ihrer Institutionen. Damit macht der Autor einen teilweise bisher unbekannten Ereigniskontext auf, an den Studien zur Bedeutung der deutschen Besatzungspolitik für die Mehrheit der einheimischen Opfer, an erster Stelle die osteuropäischen Juden, in der Ukraine zukünftig anknüpfen können.
Die Dienststellen der Kommandeure der Sicherheitspolizei (KdS) und des SD im Reichskommissariat Ukraine waren ideologisch geschulte und teils mobile, teils stationäre "Sondereinheiten", die der Reichsführer SS Heinrich Himmler im Auftrag Adolf Hitlers für Massenmorde beim Überfall auf Polen 1939 und vor allem im Krieg gegen die Sowjetunion aufstellen und einsetzen ließ. Sie dienten der schrittweisen Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenideologie und Völkermordpolitik und waren mit anderen Tätergruppen wesentlich am Holocaust und am Völkermord an den europäischen Roma beteiligt.
Im Unterschied zur bisherigen Forschung schärft Christian Schmittwilken unsere Vorstellung von der Dimension des Massenmords in der Sowjetunion. Dessen Erforschung vermittelte schon allein wegen der Anzahl der Opfer bisher den Eindruck, unterschiedslos gewesen zu sein, was er im Hinblick auf die sowjetischen Juden zweifellos auch war. Der Autor dieser Studie jedoch verdeutlich, dass die deutschen Institutionen nicht zuletzt mangels Personals bei der Verfolgung und Ermordung bestimmte Prioritäten setzten, um ein langfristiges Ziel zu erreichen: Die "Schaffung der Grundlagen für ein deutsches Nachkriegsimperium" zur "Vorbereitung der An- und Umsiedlungsvorhaben des NS-Regimes" (267).
Der Aufbau der Monographie verläuft entlang dieser Priorisierung der deutschen Mordziele und ergänzt somit in wertvoller Weise unser Wissen über das Ausmaß des nationalsozialistischen Völkermordens in Ost- und Ostmitteleuropa. Der erste Teil erklärt die ideologischen Grundlagen, die strukturellen Voraussetzungen sowie die institutionelle und personelle Ausgangssituation im Besatzungsgebiet. Zwar kann der Autor den leitenden, mittleren und unteren Dienststellen ein Gesicht geben, allerdings sagen die Biographien der Täter nur begrenzt etwas über Sozialisierung, angestammtes Milieu, persönliche Einstellungen oder Motivation aus, sich an diesem Einsatz zu beteiligen.
Der zweite Teil beruht auf intensiven Archivrecherchen und zeigt teilweise völlig neue Tatkomplexe auf, die über unsere bisherigen Erkenntnisse aus Arbeiten von u.a. Karel Berkhoff, Dieter Pohl oder Wendy Lower herausragen. Erwähnenswert sind hier besonders die Abschnitte über die Arbeitserziehungslager der KdS für sowjetische Kriegsgefangene, die Verfolgung sowjetischer Partisanenverbände und die Kriminalisierung der ukrainischen Nationalbewegung. Überzeugend kann der Verfasser darlegen, dass diese polizeilichen Terrormaßnahmen vor allem dem Ziel der Abschreckung des einheimischen Widerstands dienten, um - angesichts mangelnden Personals in den deutschen Dienststellen - jeglichen Widerstand "im Keim zu ersticken".
Letztlich, so der Autor, schlug diese Strategie völlig fehl, da der deutsche Terror, die deutsche Hungerpolitik in der Ukraine und die Verschleppungen von ukrainischen Zwangsarbeiter*innen nach Deutschland immer mehr Einheimische in den Mut der Verzweiflung getrieben habe, um sich dem bewaffneten Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzungsherrschaft anzuschließen (178f.).
Besonders interessant liest sich die konzise Studie immer dann, wenn Schmittwilken seine neuen Quellen sprechen lässt. Hier sind die beiden Abschnitte über die Praxis des Massenmordes an den jüdischen Gemeinden von Pinsk und Luzk sowie der sicherheitspolizeiliche Umgang mit der Vielfalt kirchlicher Konfessionen im ukrainischen Besatzungsgebiet besonders informativ, hinterlassen aber gleichzeitig einen zwiespältigen Eindruck beim Leser. Einerseits ist er überwältigt von der Dichte bisher unbekannter Details über den Ablauf des Massenmords oder die flexible Strategie im Umgang mit der regionalen Kirchenhierarchie, andererseits rekonstruiert die Studie auf diese Weise die damaligen Machtverhältnisse und marginalisiert die Lebenswirklichkeit der großen Mehrheit der einheimischen Opfergruppen. Was sagt die detaillierte, teilweise fast exhibitionistische (144f.) Schilderung von Massenerschießungen über die Identität der Opfer aus, und was sagt das über die reine Lust der Täter am Morden hinaus mehr über den Holocaust aus? So souverän der Autor mit seinen Quellen über die Praktiken deutscher Kirchenpolitik umgeht, blendet doch auch dieser Abschnitt die alltägliche Praxis der einheimischen Bevölkerung aus, ihren Glauben auf die verschiedensten Arten und im Widerstand zum Okkupanten weiterzuleben.
Der Autor hätte diesem, zweifelsohne ungewollten Eindruck einer Marginalisierung der Opfer zu einer ephemeren Erscheinung in seiner Studie möglicherweise in zweierlei Hinsicht vorbeugen können. Einmal durch eine Einleitung, welche die multiethnische Gesellschaft der Ukraine seit den 1920er Jahren und die Kontinuität des kommunistischen Terrors der späten 1930er Jahre durch die Nationalsozialisten mitberücksichtigt hätte. Andererseits vermisst der Leser eine systematische Quellenkritik, sowohl der Akten der deutschen Nachkriegsjustiz als auch der Dokumente, die NS-Behörden auf dem Rückzug in der Ukraine hinterlassen haben.
Beide Quellengruppen interessieren sich in der Regel ausschließlich für die deutsche Perspektive und objektivieren somit die Rolle der Opfer aus einer subjektiven Täterperspektive. So wertvoll diese Überlieferung auch ist, bedürfen sie einer besonders sorgfältigen Einbettung in den zeitgenössischen Problemkontext, weil sie sich weder für die Opfer als Personen noch für deren von Ohnmacht und Hilflosigkeit geprägten Besatzungsalltag interessieren. [1] Dieser Hinweis auf ein generelles Problem der Täterforschung soll allerdings nicht den durchweg positiven Eindruck einer quellendichten Studie schmälern, mit der Christian Schmittwilken unser Wissen über die Täter und die Institutionen des nationalsozialistischen Genozids in der Ukraine erheblich erweitert.
Anmerkung:
[1] Siehe dazu Stephan Lehnstaedt: Mehr als nur die Verbrechen. Kulturgeschichtliche Fragen an Justizakten, in: Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, hgg. von Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching, Göttingen 2009, 167-180.
Frank Grelka