Frank Trentmann: Aufbruch des Gewissens. Eine Geschichte der Deutschen von 1942 bis heute, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2023, 1020 S., 19 Farb-, 23 s/w-Abb., ISBN 978-3-10-397316-7, EUR 48,00
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"Wenn von Gewissen und Geschichte die Rede ist, so böte sich das 20. Jahrhundert als Zeitraum für eine Erforschung an", schrieb einst Heinz D. Kittsteiner in seiner Untersuchung zur Entstehung des modernen Gewissens in der Zeit der Aufklärung. [1] Nun hat der Londoner Historiker Frank Trentmann unter dem Titel "Aufbruch des Gewissens" eine meisterhafte Geschichte der Deutschen im 20. und 21. Jahrhundert "unter moralischen Gesichtspunkten" vorgelegt. [2] Es ist aber keine Gewissensgeschichte in der Nachfolge Kittsteiners. Trentmanns Interesse gilt allgemeiner der Frage, wie die Deutschen ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft jeweils unter moralischen Gesichtspunkten wahrgenommen, diskutiert und politisch bearbeitet haben. Denn mehr als andere Nationen neigten sie nach Trentmann dazu, "sämtliche sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme in moralische Fragen zu verwandeln". Er versucht daher herauszuarbeiten, wie "sich dieses Muster etablierte" (33) und bis in die Krisen der Gegenwart fortwirkt.
Drei moralische Leitkategorien dienen ihm als Raster für seine Analyse: Gewissen, Mitgefühl und Mitschuld/Mittäterschaft. Trentmann stellt einleitend erfrischend kompakt seine theoretischen Anknüpfungspunkte in diesem kaum überschaubaren Forschungsfeld dar. Entgegen dem Buchtitel scheint für das Werk weniger das Gewissen zentral als vielmehr die Kategorie des Mitgefühls. Es ist vor allem die Unfähigkeit des Großteils der Deutschen in der Zeit des Nationalsozialismus, gegenüber ihren vielen Opfern Mitgefühl zu zeigen, die einen bei der Lektüre dieses Buches immer wieder so erschrecken und Trentmann fragen lässt, ob, wo und wie diese Fähigkeit wieder zurückgekehrt ist.
Das Buch ist in vier, nicht ganz gleich große und gleich gewichtige Teile gegliedert. Im ersten Teil wird in vier Unterkapiteln konkret und quellennah die nach der Katastrophe von Stalingrad zunehmende gesellschaftliche Verunsicherung geschildert. Trentmann beschreibt, wie Soldaten und die breite Bevölkerung die nationalsozialistische Todesmaschinerie zunehmend kritisch beurteilten. Die Fakten sind weithin bekannt. Die Stärke seiner Darstellung liegt darin, dass er sehr genau auf die Sprache achtet und in bester Tradition britischer Geschichtsschreibung aus individuellen Quellen allgemeine Aspekte seiner Fragestellung entwickelt. Man wisse sehr wohl, was die Deutschen alles nicht sagten, müsse aber auch sehr präzise darauf achten, was sie sagten.
"Agnes, genieße den Krieg, denn das Ende wird schrecklich!", riet ein Kölner Arzt einer Krankenschwester (123). Angst hatte man vor dem Lohn der Sünde, die nun offenbar wurde. Im Unterkapitel "Die Mörder sind unter uns" arbeitet Trentmann die öffentlichen und privaten Diskussionen nach dem Kriegsende über Schuld, Verantwortung und Scham heraus. Er beschreibt, wie die bekannten Entlastungsnarrative entwickelt wurden, die aus Tätern Verführte und Opfer machten. Das Resultat der Auseinandersetzungen war nicht die intensive Aufarbeitung und juristische Verfolgung individueller Schuld, sondern - in Westdeutschland - die Verstaatlichung der Verantwortung.
"Wie erging es der Moral bei diesem Verantwortungstransfer"? (286) Führte die "Verwandlung von 'Schuld' in 'Schulden' [...] bei den Deutschen zu mehr oder weniger Verantwortungsgefühl und Reue für begangenes Unrecht"? (216) Wiedergutmachung wurde in einen administrativen Prozess transformiert. Es gab zwar Gegenbeispiele wie die Aktion Sühnezeichen, denen Trentmann auch nachgeht, aber echte Sühne habe selten stattgefunden. Insgesamt sei es aber für die Deutschen leichter geworden "über Schuld und Versöhnung zu reden, sobald der Staat die öffentliche Verantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus übernommen hatte" (287).
Der zweite Teil ist mit über 300 Seiten der längste Teil des Buchs. In fünf Unterkapiteln werden der Aufbau der Demokratie in der Bundesrepublik, der Versuch in der DDR, ein neues Bild vom "sozialistischen Menschen" durchzusetzen, der Umgang mit Vertriebenen in Ost und West, die Wiederbewaffnung und Friedensbewegung sowie der Umgang mit Einwanderern abgehandelt.
Bieten die beiden ersten Abschnitte eine Mischung aus allgemeiner Darstellung und der Frage nach der Durchsetzung neuer moralischer Sichtweisen in Ost und West, rücken die beiden folgenden Unterkapitel am Beispiel des Umgangs mit Migranten wieder die Frage nach dem Mitgefühl ins Zentrum. Das umfangreiche Unterkapitel "Krieg und Frieden" stellt anhand von Wiederbewaffnung, Atomwaffendebatten und Kriegsdienstverweigerung noch einmal das Gewissen ins Zentrum. Trentmann greift an dieser Stelle Niklas Luhmann auf, der die Bedeutung des Gewissens in der Moderne schwinden sieht, denn immer mehr Entscheidungen würden an Institutionen und Systeme der Wahrheitsfindung (Wissenschaft, Religion, Recht) delegiert. Trentmann hält dagegen, dass im Rahmen der Friedensbewegung immer mehr Menschen zu der gegenteiligen Überzeugung gelangt seien, also "dass Frieden und das Überleben der Menschheit von ihnen ganz persönlich abhingen" (538). Es wäre nicht uninteressant gewesen, Luhmanns These auch in anderen Kontexten zu testen.
Der dritte Teil des Buchs behandelt die Zeit nach 1989 und ist mit nur zwei Unterkapiteln der kürzeste. Nach einem prägnant formulierten Überblick über die Geschichte der Jahre 1989/90 gilt Trentmanns eigentliches Interesse dem, was danach kam: den wirtschaftlichen Problemen, der steigenden Arbeitslosigkeit, der Abwanderung in den Westen. Unter den Gesichtspunkt der Moralgeschichte konzentriert er sich auf den juristischen Umgang mit den Unrechtshandlungen des DDR-Staatsapparates, der die Opfer des DDR-Unrechtssystems bekanntlich enttäuschte. Sie wollten "Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat" (668). Ob Trentmanns Vermutung zutrifft, dass die Politik die Auseinandersetzung mit dem DDR-Unrecht der Justiz überlassen habe, um sich aus diesem Prozess herauszuhalten, kann aber bezweifelt werden.
Das Unterkapitel über "Deutschland in der Welt" behandelt zunächst Fragen der Moral in der deutschen Außen-, Europa- und Wirtschaftspolitik. Alle diese Abschnitte durchzieht als gemeinsamer Nenner die deutsche Tendenz zur Doppelmoral, wenn es um den eigenen ökonomischen Vorteil ging. Besonders scharf arbeitet Trentmann dies in der griechischen Schuldenkrise heraus, durch die Deutschland "beinahe das europäische Haus einriss, das es einst so mühsam errichtet hatte" (701). Das Kapitel wird abgeschlossen mit der umgekehrten Frage nach der Welt, die 2015 nach Deutschland kam. Angela Merkels Entscheidung zur Öffnung der Grenzen war nach Trentmann weniger eine humanitäre Maßnahme als eine Entscheidung für das kleinere Übel. Trentmann kontrastiert die breite Hilfsbereitschaft der Gesellschaft mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus im Westen wie im Osten, wo es auch schon lange vor 1989 eine Neonazi-Szene gegeben hatte.
Der letzte Teil des Buches gilt dem deutschen "Bestreben, gut zu sein" (735). Darin geht es um die Moralisierung des Sparens, das in Ost und West nach dem Krieg erst wieder gelernt werden musste, dann um die zunehmende Armut in der Gesellschaft und das auf Subsidiarität aufgebaute deutsche Sozialsystem, das Menschen zur Selbsthilfe und zur Familiensolidarität verpflichtet. Insgesamt wird gerade dieser Abschnitt von Trentmann erstaunlich wenig mit seiner Ausgangsfrage nach Mitgefühl und Empathie verbunden, obwohl diese Perspektive gerade hier nahegelegen hätte und es hierzu zahlreiche autobiografische und literarische Zeugnisse gibt. Im letzten Unterkapitel "Mutter Natur" schildert er die historische Entwicklung von Natur- und Umweltschutzbewegung, geht breit auf die in Deutschland besonders ausgeprägte und moralisch aufgeladene Anti-Atomkraftbewegung ein und verweist zugleich auf die zahlreichen Paradoxien der deutschen Energie- und Umweltpolitik. Infolgedessen befindet sich Deutschland in vielen Bereichen des Umweltschutzes auf EU-Ebene allenfalls im Mittelfeld, in manchen Bereichen ist es sogar eher Schlusslicht.
Am Ende zieht Trentmann daher eine gemischte Bilanz. Es habe sich zwar viel bewegt in Deutschland in den Jahrzehnten nach dem Krieg, aber dieser Wandel habe lange gedauert und sei mit großen Widerständen verbunden gewesen. Insgesamt habe sich durch die intensive Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit ein eher introspektiver Blick verfestigt, der - seit dieser schmerzhafte Prozess der Akzeptanz der Schuld halbwegs passabel bewältigt schien - zu einer gewissen moralischen Selbstsicherheit und Selbstzufriedenheit geführt habe. Vor allem in der Außenpolitik sei die deutsche Position durch große Zurückhaltung bei der Übernahme von Verantwortung gekennzeichnet.
Frank Trentmann hat eine herausfordernde Zusammenschau der moralischen und politischen Entwicklung in Deutschland in den letzten acht Jahrzehnten vorgelegt. Er hat eine beeindruckende Zahl auch entlegenster Archive durchforstet und ist dabei dem Denken und Fühlen der deutschen Bevölkerung auch in versteckte Regionen ihrer Seelen gefolgt. Hier konnten nur die großen Themenfelder benannt werden, aber nicht wirklich Trentmanns Mosaik aus vielen individuellen Verhaltensweisen nachgezeichnet werden, das ein so plastisches Bild der deutschen Gesellschaft entstehen lässt. Manchmal hätte man sich vielleicht noch eine stärkere Einbeziehung moralischer Seismografen wie der Literatur oder intellektueller Debatten gewünscht, aber solche Einwände sind marginal. Keine andere Überblicksdarstellung zur deutschen Nachkriegsgeschichte hat der deutschen Gesellschaft bisher einen so klaren Spiegel vorgehalten. Das Buch ist ohne Zweifel eine Meisterleistung.
Anmerkungen:
[1] Heinz D. Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens (1991), Frankfurt 2015, 11.
[2] Der englische Titel lautete bescheidener "Out of Darkness. The Germans 1942-2022".
Andreas Gestrich