Antje Thumser: Die 'Bayerische Chronik' des Ulrich Fuetrer. Überlieferung - Textgenese - Produktions- und Wirkungsstrategie (= Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters; Bd. 154), Wiesbaden: Reichert Verlag 2024, XII + 668 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-7520-0767-1, EUR 128,00
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Wer sich als Germanist der Bayerischen Chronik des Hofmalers Ulrich Fuetrers anzunähern wagt, muss schon recht viel Mut besitzen angesichts des monumentalen Umfangs dieser historiographischen Dichtung, die er im Auftrag des bayerischen Herzogs Albrecht IV., Wittelsbacher Allleinherrscher von Bayern-München, 1478 zu verfassen begann und erst 1481 abschloss. In der Handschrift München, Staatsbibl., Cgm 43 z.B. umfasst der Text 427 Seiten. Er ist bis heute in 15 Handschriften überliefert und kann so als ein recht großer Bucherfolg bezeichnet werden.
Genau dieses Projekt hat aber Antje Thumser in ihrer Dissertation (FU Berlin 2020) angegangen und, das kann man gleich vorausschicken, recht bravourös gemeistert, indem sie verschiedene analytische Ansätze verbindet, um die narrative Struktur der Chronik in den Griff zu bekommen. Sie betrachtet die vier verschiedenen Redaktionen des Werks gesondert für sich und untersucht minutiös die handschriftliche Überlieferung, wie sie sich heute noch präsentiert. Bedenkt man, dass sich die historiographische und germanistische Forschung erst seit den 1980er Jahren Fuetrers Arbeit zugewandt hat, ohne dass seitdem entscheidende Neuerkenntnisse vorgelegt worden wären, verdient Thumsers Bemühen zusätzliche Anerkennung.
Allerdings bleibt es bei allen chronikalischen Werken immer ein etwas problematischer Versuch, komplexere Aussagen über die Autorintention oder die stilistischen und inhaltlichen Aspekte des Textes zu erreichen. Die Autorin bemüht sich, sowohl die handschriftliche Tradition als auch die Produktionswirkung miteinander zu verknüpfen, denn es handelte sich ja um eine Auftragsarbeit, weshalb das spezielle Interesse des Herzogs und seiner Familie stets mitzuberücksichtigen sind. Fuetrer war ein anerkannter Hofmaler, und als solcher hat er auch eine Bildergenealogie geschaffen (siehe die Hs. Dresden, Sächsische Landesbibliothek - Staats- und Universitätsbibliothek, Mscr. Dresd. P.47). Thumser strebt insgesamt danach, den "Entstehungsprozess und die Wirkungsmacht" der Chronik zu verfolgen, was durchaus verdienstvoll zu sein verspricht, zugleich aber auch die Gefahr in sich birgt, sich übermäßig den Formalia der Handschriften anzuvertrauen, wodurch die narrative Dimension in den Hintergrund treten könnte. Thumser betont explizit, dass sie sich auf die Autopsie der Textzeugen stützt, was an und für sich sehr ergiebig sein dürfte, selbst wenn hierbei nicht unbedingt neue Erkenntnisse zu Tage treten, ist ja die Forschung bereits mehr als 100 Jahre erfolgreich mit dieser Chronik umgegangen. Ob der Begriff "Textbiographie" (23) hierbei wirklich zu greifen vermag, scheint mir jedenfalls nicht ganz sicher.
Der sehr umfangreiche Arbeitsteil von Thumsers Studie gliedert sich genau nach den vier Redaktionen, wobei sie weitgehend ganz historiographisch vorgeht und den geschichtlichen Entwurf im Einzelnen verfolgt, wie er sich in den jeweiligen Handschriften abzeichnet. Man muss der Autorin hohe Anerkennung für ihre sorgfältige geschichtliche Analyse aussprechen, aber zugleich erhebt sich die Frage, ob es ihr wirklich gelingt, aus dem vorgegebenen narrativen Rahmen weiter auszugreifen und die Chronik zugleich als literarisches Werk zu analysieren. Man konstatiert nämlich weitgehend bloß, dass es jeweils um die historischen Figuren geht, deren Charakterisierung durch Fuetrer im Mittelpunkt steht. Wir erhalten also eine beeindruckende Interpretation, die die Genealogie nachzeichnet, wie sie der Dichter in Auseinandersetzung mit dem Münchener Hof gestaltete. Eine Aussage Thumsers unterstreicht dies explizit: "Die beiden Redaktionen der 'Bayerischen Chronik' belegen, dass sich der bis zu diesem Zeitpunkt vermutlich ausschließlich an literarischen Texten geschulte Fuetrer umfassend in die Gattung Chronik einarbeitete, um dem herzoglichen Auftrag gerecht zu werden". (367) Thumser scheint sich ebenfalls primär um die historischen Aussagen bemüht zu haben, nicht aber um die Chronik als Text, wie es einleitend angekündigt worden war. Die Handschriften freilich sind schon lange gründlich untersucht worden, und so scheint das vorgelegte Untersuchungsergebnis eher schmal zu sein. Thumser konstatiert aber beispielsweise, dass man in München primär an dem quellengesicherten Wissen über die Dynastie interessiert war, nicht aber an der rein genealogischen Abfolge (512).
Die Autorin insistiert darauf, Fuetrer unbedingt als beachtlichen Chronisten anzusehen, dessen Werk sich ebenfalls der germanistischen Analyse anbieten könnte. Dem dürfte man wohl beipflichten, im Endergebnis liegt hier jedoch, um es erneut anzusprechen, eine überwiegend historiographisch gestaltete Arbeit vor. Ein Vergleich mit Fuetrers literarischen Werken, die ja auch ein ungeheures Ausmaß annahmen, hätte sich wohl eher angeboten, aber das wäre ein ganz anderes Buch geworden. Die Autorin deutet schließlich an, welche Möglichkeiten sich gerade aus narratologischer Sicht anbieten würden, aber sie spricht hier im Konjunktiv, während eingangs genau diese Aspekte angedeutet waren, so dass sich der Germanist letztlich ziemlich enttäuscht sieht.
Umso anerkennenswerter und wertvoller sind aber, abgesehen von der gründlichen und sehr umfangreichen Diskussion der einzelnen Redaktionen, das im Anhang befindliche Stemma der Handschriften, die Siglenkonkordanz der Handschriften, die Bibliographie und die Register für die Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucke sowie für Personen und Werke. Es ist und bleibt eine große Herausforderung, anhand einer so umfangreichen Chronik interpretativ und analysierend vorzugehen, diese mithin zunächst als Text per se anzuerkennen, es sei denn, die Autorin hätte stilistische oder motivische Aspekte herangezogen, was freilich nicht so recht zu beobachten ist. Auf jeden Fall darf diese Arbeit als ein wichtiger Beitrag zur zukünftigen Fuetrer-Forschung angesehen werden.
Albrecht Classen